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Die sozialanthropologischen Prämissen der Stadtplanung im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Sendecki, Victor. Die sozialanthropologischen Prämissen der Stadtplanung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. 2006, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Official URL: https://edoc.unibas.ch/60610/

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Abstract

Die Untersuchung der sozialanthropologischen Diskurse in der modernen Stadtplanung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wie ich sie anhand der berühmten Handbücher von Reinhard Baumeister (1833-1917), Camillo Sitte (1843-1903) und Joseph Stübben (1845-1936) untersucht habe, erfordert zunächst eine mehr oder weniger oberflächliche Bestandsaufnahme historischer Topoi zum Phänomen „Stadt“ von den alten biblischen Motiven bis zur modernen marxistisch-sozialistischen und ständisch-konservativen Stadtkritik, mittels derer das Werk der drei Ingenieure und/oder Architekten in einen breiteren Kontext eingefügt werden kann. Dabei erweist sich besonders die negativ konnotierende Stadtdeutung als ergiebig. Schnell fällt auf, welch grossen und tiefgreifenden gesellschaftlichen Ängsten auf beiden Seiten immer wieder Ausdruck verliehen wurde, und welch geeigneten Sündenbock die Stadt dabei abgab. Mit einem kurzen Blick auf die sozialistische Argumentationsweise bei Bebel fällt auf, wie die Stadt gleichsam als materialisiertes Ergebnis eines tyrannischen kapitalistischen Systems verstanden und als Ursprung und Hort von gesellschaftlichen Widersprüchen denunziert wurde. Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen linker und konservativer Stadtkritik, stösst man ferner auf die klassischen Implikationen der Dichotomie von Stadt und Land. Wie bei den antikapitalistischen Argumenten der Linken, trug die Stadt auch bei den bürgerlich-konservativen Vertretern der Stadtkritik das Mal eines „Parasiten“, welcher dem Lande Lebenskräfte in Form von Menschen und Ressourcen entziehe. Bei Wilhelm Heinrich Riehl und Walther Classen verstärkt sich dieses Bild zur Horrorvorstellung von der degenerativen Kraft des urbanen Lebensumfelds, wo das „stadtgeborene Geschlecht“ seine Tugendhaftigkeit und Potenz verliere und im Prozess der Vermassung gar die Nation und die Rasse mit in den Abgrund ziehe.
Einen positiv konnotierten Stadtbegriff lernen wir hingegen dort kennen, wo die moderne Stadt nicht aus einer ästhetisch-gesellschaftlichen, sondern aus einer ökonomischen und politischen Perspektive gedeutet und bewertet wird. Der Zuspruch, der dem gesellschaftlichen Fortschritt im privatwirtschaftlichen Rahmen entgegengebracht wurde, steht deshalb stets in einem direkten Verhältnis zu der Faszination, mit welcher man der Stadt als einem kulturellen Schmelztiegel und wirtschaftlichen Umschlagspunkt begegnete. Die marktwirtschaftlichen Qualitäten eines urbanen „Marktes“ eigneten sich offenbar auch zur Übertragung liberaldemokratischer Grundannahmen auf den Bereich des Politischen und Kulturellen: Die Stadt verhiess Aufklärung, Toleranz sowie intellektuelle und materielle Mobilität und Freiheit. Sie wies traditionelle hierarchische Muster zurück und ersetzte sie, so die optimistische Deutung, mit demokratischen Gleichheitsansprüchen. Gleichzeitig war sie im Kontext von Arbeitsteilung Nährboden für intellektuelle Vernetzung und Interaktion, sowie Garant für geistigen und naturwissenschaftlichen Fortschritt.
Nun ist es nicht so einfach, die Vertreter der Stadtplanung einem dieser Meinungslager einfach zuzuordnen. Für die Ingenieure stand schliesslich die Beseitigung von praktischen Problemen im Vordergrund, die sich aus dem Wachstum der industriell stimulierten Städte ergaben: Wohnraum musste geschaffen, und der Verkehr systematisiert und rationalisiert werden. Aufgabe der Stadtplaner war es, mit dem von privaten Kräften akkumulierten Kapital, aber unter Aufsicht kommunaler bzw. staatlicher Gremien, eine leistungsstärkere und gesündere Stadt zu entwerfen. Die Mittel, auf die sie zurückgreifen konnten, stellten jedes städteplanerische Unternehmen der Vergangenheit in den Schatten, gleichzeitig wurde von den Ingenieuren aber auch ein gewisses Mass an nachhaltiger Voraussicht erwartet. Die rege Rezeption der städtebaulichen Diskussion kann mit einem Verweis auf die Vorbildfunktion einiger Projekte zur Stadterneuerung (v.a. Haussmann in Paris), sowie auf die zahlreichen Wettbewerbe, Kongresse und Publikationen illustriert werden. Sie korrespondierte mit den Ansprüchen der Stadtplanung, eine Disziplin zu sein, die nicht nur den Bau von Häusern und Strassen plante, sondern die zugleich einen Beitrag zum körperlichen und geistigen Wohlbefinden der Bürgerschaft (Stübben) leistete. Verständlich, dass sie damit auch in Bereiche vorstiess, die dem bürgerlich-liberalen Autonomiebedürfnis in vielen Punkten zuwiderliefen. Mit ihrer Tendenz zur „Aneignung der Stadt“, zur Expropriation von Baugrund, zu einer Haltung gegen die Bodenspekulation und zur Eingemeindung periphärer Stadtgebiete brachen die Stadtplaner daher eine langwierige, und nur in einem politischen Kontext begreifbare, Debatte darüber los, wem die Stadt eigentlich gehöre. Zwischen den Ansprüchen der staatlichen Herrschaft und denen des selbstbewussten Bürgertums offenbarten sich die gesellschaftlichen Brüche, die im Falle der Stadtplanung zunächst dadurch geglättet wurden, dass man die Souveränität der einzelnen Gemeinden stärkte. Stadtplanung sollte somit „Planung für eine bestimmte Stadt und ihre Bewohner sein“, was wohl auch ein tragfähiger Kompromiss gewesen wäre, hätte nicht der Rückzug des Bürgertums in die Häuslichkeit des Privathauses und der Privatwohnung einerseits und die immer wieder mit Schrecken wahrgenommene Vermassung der Menschen im öffentlichen Raum andererseits das urbane Dispositiv dermassen polarisiert. In diesem stadtsoziologischen Zusammenhang ist ja auch die Bedeutung des modernen Begriffs der „Individualität“ und der „bürgerlichen Familie“, sowie auch die traditionellen Vorbehalte und Ängste, die sich lange mit dem Begriff der „Masse“ verbanden, zu verstehen. Im Kontext urbaner Interaktionsdynamiken zeigen sich, so der Befund bei Simmel, Benjamin oder Eco, Symptome der „Massenindividualisierung“, was zum Beispiel Camillo Sitte so schmerzlich als Verlust jeglichen Gemeinschaftsgefühls wahrnahm.
Man mag es als eine Selbstverständlichkeit betrachten, dass der Betrachter einer grossen Anzahl eigenständiger Einheiten automatisch zu klassifikatorischen und kategorisierenden Einteilungsmustern greift, um die Einheiten gruppieren und unterscheiden zu können. Dennoch stellt sich auch in diesem Falle die Frage, welche Unterscheidungskriterien in der Stadtplanung zur Anwendung kamen, und wo sie ihre Ursprünge hatten. Den Einfluss zweier solcher Systeme hebe ich besonders hervor: Das erste entstammte den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Medizin und der Physik und führte zu den erwähnten Analogien vom städtischen „Organismus“ oder von der „Stadtmaschine“. Das zweite übertrug die Leitbilder von „Verfügbarkeit“ und „Mobilität“ aus der wirtschaftsliberalen Theorie auf die Zielsetzungen des Städtebaus. Für die sozioanthropologischen Prämissen des Städtebaus bedeutete diese Hinwendung zu mathematisch erfassbaren Kategorien, dass zahlreiche Bereiche des menschlichen Zusammenlebens und der emotionalen Verfassung des Städters in den Hintergrund traten. Stattdessen hielt man sich an die berechenbaren Bereiche des Stadtraumes. Man versuchte, den Verkehr nach physikalischen Kriterien zu analysieren und statistisch zu begreifen, indem man die jeweiligen Frequenzen bestimmter Strassenabschnitte in bestimmten Stadtvierteln ermittelte, um daraus so etwas wie eine topografische Karte des Verkehrsaufkommens zu zeichnen. „Mobilität“ und „Verfügbarkeit von Dienstleistungen“ beinhalteten als Leitbilder gleichermassen ein Versprechen von Fortschritt und Gleichberechtigung, gleichzeitig prägten sie die Arbeits- und Lebenswelt der Menschen und erweiterten ihren Aktionsradius.
Noch eindrücklicher zeigt sich das wissenschaftliche Instrumentarium beim Problem des Wohnraums und der Beseitigung der urbanen Missstände der Epoche der Hochindustrialisierung. Die Bedeutung der Assanierung und der sogenannten Hygienebewegung macht die enge Verflechtung der Stadtplanung mit dem kulturellen Wertewandel der bürgerlichen Gesellschaft deutlich, die der Beseitigung von Gestank, Unrat und Krankheiten auch einen hohen ideellen und sozialintegrativen Wert zusprach. Arbeitsunfähigkeit, Verwaisung und Siechtum wurden dementsprechend als ökonomische Verluste verstanden, deren Vermeidung auch in den Verantwortungsbereich des Stadtplaners fiel.
Wie in der Frage der Assanierung, so versuchten die Ingenieure die Komplexität des städtischen Wohnraums auch bezüglich der Wohnungsfrage in verschiedene Teilbereiche und Kategorien aufzubrechen, um so zu einer systematischen Lösung zu gelangen. Die Lösung war ein System von Kategorien, das der Wirtschaft entnommen wurde und das es erlaubte, die Menschen nach (Einkommens-)Klassen einzuteilen. Und obschon die Stadtplaner zwar noch dem Ideal vom bürgerlichen Privatbesitz anhingen, war ihnen doch schmerzlich klar geworden, dass es in der Frage der Gebäudetypologie und der Art der Bebauung in der Grossstadt, besonders für die Arbeiter, nur eine Lösung geben konnte: geschlossene Bebauung, Mehrfamilienhäuser und Mieterverhältnis. Besonders im Hinblick auf die Risiken des sozialen Wohnungsbaus wurde deshalb versucht, ein Mindestmass an Lebensqualität wissenschaftlich festzulegen, indem man beispielsweise verträgliche Werte für Bebauungsdichte, Lichteinfall und Luftzufuhr festlegte. Auch die Argumente gegen Aftermiete und häufigen Wohnungswechsel waren konsequenterweise medizinischer und sozialhygienischer Natur, denn es ging nicht nur um Wohnkomfort, sondern um das geistige und sittliche Wohl der niederen Klassen. Die Förderung der häuslichen „Sesshaftigkeit“ des Proletariats entsprach dabei den bürgerlichen Normen von Eigentum, Sparsamkeit und Familie. Und selbst bei den Arbeiter-Modellsiedlungen erkennt man deutlich die Absicht, dem Arbeiter das Gefühl zu geben, „Eigentümer“ und aktives Mitglied des kapitalistischen Produktionsprozesses zu sein. Erst dann konnte er nämlich auch im Sinne der Stadtplanung als Teil der Gesellschaft erfasst werden.
Eine weitere Konsequenz der wissenschaftlichen Kategorisierung der Gesellschaft haben wir mit dem Begriff der „Zonung“ kennengelernt, welche, von Baumeister erstmals angeregt und von Stübben ausformuliert, die Einteilung des Stadtgewebes nach unterschiedlichen Nutzungsstrukturen nahelegte und sich als stadtplanerisches Werkzeug bald grosser Beliebtheit erfreute. So wurde die Entstehung von Arbeiter- und Industrievierteln, von Einkaufs- und Geschäftsvierteln (Citybildung) oder bürgerlichen Wohn- und Villenquartieren nun über die Ziffern zur Bebauungsdichte, über die Anlage spezifischer Verkehrsnetze und andere baupolizeiliche Vorgaben dirigiert. Das gleiche traf auf den Bereich zu, der in der industriellen Arbeitswelt einen komplementären Bestandteil des Alltags darstellte: die Freizeit. Aus städtebaulicher Sicht gehörte diese „ins Grüne“, welche in mannigfaltigen Formen mit der urbanen Lebenswelt in Verbindung gebracht werden sollte: Einerseits die eigentlich antiurbanen Stadtkonzepte eines E. Howard (Gartenstadt) oder A. Soria y Mata (Bandstadt), die versuchten, „die Stadt ganz aus der Stadt herauszunehmen“, um sie auf dem Lande neu „einzupflanzen“; andererseits die Absicht, mittels „Inszenierung“ von Stadtgrün so etwas wie eine natürliche Oase innerhalb der Stadt einzurichten.
Advisors:Mooser, Josef
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Neuere Allgemeine Geschichte (Mooser)
UniBasel Contributors:Mooser, Josef
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:39
Deposited On:06 Feb 2018 11:29

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