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Industrialisierung als Erfahrung? Erinnerungen aus der Prager Arbeiterschaft (1873-1914)

Schaub, Felizitas. Industrialisierung als Erfahrung? Erinnerungen aus der Prager Arbeiterschaft (1873-1914). 2009, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Official URL: https://edoc.unibas.ch/60558/

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Abstract

Die Jahre zwischen 1873 und 1914 waren in Prag von einer intensiven Phase der Industrialisierung geprägt. Aus heutiger, retrospektiver Sicht beurteilt die Geschichtswissenschaft den Industrialisierungsprozess als eine Zeit des «verdichteten» Wandels. Wachsende Vorstädte, steigende Bevölkerungszahlen oder Reformen in der Sozialpolitik gehören zu den vielfältigen Aspekten der Veränderungen, die auf die Dynamik der urbanen Industrialisierung wirkten und von ihr bestimmt wurden. Die Frage nach der Bedeutung, die diese «äusseren», makrohistorischen und strukturellen Veränderungen für die Alltagswirklichkeiten der einzelnen Menschen hatte, ist für die vorliegende Arbeit wegleitend.Anhand von Selbstzeugnissen wird untersucht, wie Angehörige der Arbeiterschaft die Veränderungen ihrer Alltagswirklichkeiten wahrgenommen und gedeutet haben. Ausserdem wird danach gefragt, wie die Arbeitenden auf die Veränderungen ihrer Arbeitswelten reagierten. Lassen sich Handlungsweisen aufzeigen, die für Anpassungsformen an die sich verändernde Umgebung sprechen oder bestimmten pro-aktive Handlungen ihr Verhalten? Ob die Aufzeichnungen auch auf Kontinuitäten in den Arbeitswelten hinweisen, die von den multifaktoriellen Veränderungen der Industrialisierung nicht berührt wurden, wird ebenfalls aufgezeigt.Um sich der dialektischen Beziehung zwischen den sich wandelnden Strukturen und den sozialen Wirklichkeiten der Menschen im behandelten Zeitraum zu nähern, werden in der vorliegenden Arbeit unterschiedliche Aspekte der Prager Arbeitswelten aus mikro- und makrohistorischen Perspektiven beleuchtet. In einem «Spiel mit Grössenordnungen» [«jeux d’échelles»], wie Jacques REVEL die Betrachtung historischer Phänomene aus unterschiedlichen Perspektiven definiert, werden lebensgeschichtliche Aufzeichnungen von Arbeiterinnen und Arbeitern analysiert und ihre individuellen Erfahrungen und Handlungsweisen mit Veränderungen auf makrosozialer Ebene in Verbindung gebracht. Für die makrohistorische Sicht bezieht sich diese Arbeit auf Verwaltungsberichte der österreichischen Behörden, zeitgenössische (österreichische) Zeitungsartikel und Forschungsliteratur. Von einer wechselseitigen Durchdringung der makro- und mikrohistorischen Erkenntnisse verspricht sich diese Untersuchung, die Vorstellung von Industrialisierung als einer linearen, «fortschrittlichen» Entwicklung aufzubrechen und einen Eindruck vom Facettenreichtum dieses Prozesses zu vermitteln.Forschungsarbeiten zur Prager Arbeiterschaft während der Zeit der «beschleunigten» Industrialisierung, die in ihren Untersuchungen von den sozialen Wirklichkeiten der Arbeiterinnen und Arbeiter ausgehen und damit einen kulturhistorischen Anspruch vertreten, sind selten. Für die tschechische Geschichtsschreibung ist das weitgehende Fehlen kulturhistorischer Ansätze unter anderem auf die Forschungstraditionen des Sozialismus zurückzuführen, in denen der Begriff der «Arbeiterschaft» mit «Arbeiterbewegung» und «Arbeiterklasse» gleichgesetzt wurde. Eine Annäherung an die Alltagswirklichkeiten der Einzelnen war unter diesen Bedingungen erschwert. Kulturhistorische Untersuchungen, die sich für die Lebensweisen der Angehörigen der Arbeiterschaft interessieren, sind ausserdem häufig mit dem Problem konfrontiert, dass historische Aufzeichnungen, die Arbeiterinnen und Arbeiter selbst verfassten, schwer zugänglich sind. Die Sammlung von Erinnerungstexten, die 1948 von Jan KLEPL initiiert wurde, bildet in dieser Hinsicht eine erfreuliche Ausnahme. Der KLEPL-Bestand ist im «Národní Technické Museum» [Nationales Technisches Museum] (NTM) in Prag archiviert und umfasst heute fast zweitausend tschechische und deutsche Aufzeichnungen, wobei mehr als die Hälfte zwischen 1948 und 1968 entstanden sind. Die hier analysierten Erinnerungstexte des KLEPL-Bestands stammen zum grössten Teil von Prager Arbeiterinnen und Arbeitern, die in ihren Erzählungen vor allem auf frühere Arbeitswelten in Handwerksbetrieben und Fabriken eingehen. Die Erfahrungen der Arbeiterinnen und Arbeiter mit den neuen wirtschaftlichen Bedingungen, die auf der vermehrten Integration von Maschinen in Herstellungsabläufe basierten, bilden den ersten thematischen Teil der Untersuchung. Anschliessend soll es um die Arbeitsbedingungen gehen, die gegen Ende des «langen 19. Jahrhunderts» die Arbeitswelten prägten. Die Bedingungen der Arbeitswelten werden unter anderem in Bezug auf ihre Veränderungen und Kontinuitäten während des Prozesses der Technisierung diskutiert. Weiter wird dargelegt, welche individuellen und kollektiven Handlungsstrategien zum Umgang mit den damaligen Arbeitsverhältnissen auszumachen sind. Ausserdem ist zu untersuchen, wie sich die Veränderungen aufgrund der Industrialisierung auf die beruflichen Möglichkeiten der damaligen Menschen auswirkten und welche Konsequenzen sie auf den Prozess der Selbstverortung der Arbeiterinnen und Arbeiter hatten. Die Frage nach der Bedeutung der Arbeitswelt für die Konstruktion des Selbstbildes der Angehörigen der Arbeiterschaft wird dabei nicht nur unter Aspekten der beruflichen Tätigkeiten diskutiert. Vielmehr ist diese Frage auch vor dem Hintergrund des tschechisch-deutschen Beziehungsgefüges zu erläutern, das die Arbeitswelten in Prag prägte. In den Erinnerungstexten wird Industrialisierung vor allem unter wirtschaftlichen und technischen Aspekten diskutiert, die mit der Mechanisierung der Arbeitswelten in Zusammenhang stehen. In den Aufzeichnungen kommt eine gewisse Bewunderung für die «Vollkommenheit der Technik» zum Ausdruck, die es den Grossunternehmern ermöglicht, günstiger zu produzieren, als dass handwerkliche Herstellungsweisen erlaubten. Die Erwartungen an die technischen Entwicklungen ihrer Zeit, die in den Texten zum Ausdruck kommen, oszillieren jedoch zwischen Bewunderung und dem Gefühl der Bedrohung. Die Strukturen der Wirtschaft veränderten sich durch die Mechanisierung der Arbeitsprozesse in den Grossbetrieben. Die verschärfte Konkurrenzsituation, die dadurch entstand, wird von Angehörigen der Arbeiterschaft häufig vor allem als eine Gefahr für die Handwerke gedeutet. Die Bedrohung wird dabei nicht direkt den Unternehmern der Grossbetriebe zugeschrieben, sondern im «technischen Fortschritt» erkannt. Die symbolische Bedeutung der Maschine für die industrielle Revolution wird in den Schilderungen aufgenommen und erneuert. Die Selbstzeugnisse thematisieren die Industrialisierung im Sinne eines «technischen Fortschritts» nicht nur explizit. Die Verfasserinnen und Verfasser der Erinnerungstexte wenden sich dem Thema des Wandels auch indirekt zu, so zum Beispiel in der Beschreibung ihrer Arbeitsbedingungen. Ihren Schilderungen muss eine hohe Aufmerksamkeit entgegengebracht werden, um Hinweise zu entnehmen, die für eine Untersuchung der dialektischen Beziehung zwischen den sich wandelnden Strukturen und den sozialen Wirklichkeiten der Arbeiterinnen und Arbeiter wichtig sind. Die Analyse dieser Erinnerungstexte zeigt, dass ihre Schilderungen von Erlebtem vor allem von den Erfahrungen der Unsicherheit in Bezug auf die Dauer ihrer Anstellungen und der damit verbundenen Ersetzbarkeit zeugen. Diskussionen um die tägliche Arbeitsdauer machen hingegen deutlich, dass bestimmte strukturelle Gegebenheiten (hier: Arbeitszeiten) auch von starken Wandlungsprozessen (hier: wirtschaftliche Krise und Rationalisierung der Produktion) kaum berührt werden und fortbestehen können. Hier wird bewusst, dass die Rede vom Wandel sehr differenziert zu betrachten ist. Auch wenn weder Kontinuität noch Wandel in den Aufzeichnungen der genannten Autoren explizit in einen Zusammenhang mit eigenem Erlebtem gebracht werden, so lassen sich den Texten doch indirekte Hinweise auf strukturelle Veränderungen in der Zeit zwischen 1873 und 1914 entnehmen, die für die sozialen Wirklichkeiten der Erzählenden wiederum von grosser Bedeutung sind. So verweisen zum Beispiel die unterschiedlichen Berufsbezeichnungen, mit denen sich die Autorinnen und Autoren selbst beschreiben, auf den arbeitsweltlichen Wandel, wie zum Beispiel in der veränderten Selbstbeschreibung vom «Schmied» zum «Metallarbeiter» zum Ausdruck kommt. Dass sich diese Begriffe veränderten, bringt auch die Bedeutung der beruflichen Tätigkeit für die Selbstverortung eines Menschen zum Ausdruck. Makrosoziale Veränderungen der Arbeitswelt wirken auf die sozialen Wirklichkeiten der Menschen und können einen Wandel in der Wahrnehmung des individuellen Selbst auslösen.
Advisors:Haumann, Heiko
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Osteuropäische und neuere Geschichte (Haumann)
UniBasel Contributors:Haumann, Heiko
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:39
Deposited On:06 Feb 2018 11:28

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