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«La science des frontières». Die Entwicklung der Nationalökonomie an der Universität Basel von 1910 bis 1927 – dargestellt am Beispiel des Ökonomen Julius Landmann (1877-1931)

Reich, David. «La science des frontières». Die Entwicklung der Nationalökonomie an der Universität Basel von 1910 bis 1927 – dargestellt am Beispiel des Ökonomen Julius Landmann (1877-1931). 2011, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Abstract

«Gedanken sind zollfrei. Aber man hat doch Scherereien.» (Karl Kraus, Sprüche und Widersprüche)
In meiner Masterarbeit ging ich der Frage nach, wie sich die Nationalökonomie an der Universität Basel zwischen 1910 und 1927 inhaltlich und institutionell veränderte, welche Ursachen in- und ausserhalb der Universität dafür verantwortlich waren und inwiefern sich die Stellung der Nationalökonomie gegenüber anderen Wissenschaften, insbesondere der Rechtswissenschaft, gewandelt hat.Dabei erwies sich im Rückblick die Entwicklung der Nationalökonomie als ein komplexes Geflecht von inhaltlichen, institutionellen und personellen Entwicklungssträngen. Als analytisches Hilfsmittel wurde daher zu Beginn der Arbeit die Denkfigur der «wissenschaftlichen Landkarte» entwickelt, auf der die verschiedenen Wissenschaften bezüglich ihrer Inhalte und Erkenntnisgegenstände als Territorien abgebildet sind. Diese sind jedoch nicht für immer festgelegt, sondern verändern sich laufend, wobei es dadurch zu Konflikten zwischen benachbarten Wissenschaften kommen kann. Einen Gedanken des französischen Wissenschaftssoziologen Bruno Latour aufnehmend, wurde zudem mit dem Nationalökonomen Julius Landmann (1877-1931) der personelle Aspekt von Wissenschaft miteinbezogen, um durch die Fokussierung auf eine Person und deren Umfeld mehr über die Entwicklung der Nationalökonomie zu erfahren, als es eine blosse Ideen- und Institutionengeschichte leisten könnte. Insbesondere ermöglichte die Fokussierung auf Julius Landmann, der neben seiner Tätigkeit an der Universität Basel auch in der Politikberatung tätig war (wirtschaftspolitischer Berater mehrerer Bundesräte), den sich verändernden Stellenwert der Nationalökonomie im ausseruniversitären Bereich einzubeziehen und die sich daraus ergebenden Rückwirkungen auf deren inneruniversitäre Entwicklung zu analysieren.Die Untersuchung hat gezeigt, dass sich in der Entwicklung der Nationalökonomie an der Universität Basel zwischen 1910 und 1927 auf der «Landkarte der Wissenschaften» zwei Phasen unterscheiden lassen: eine erste expansive Phase von 1910 bis 1922, und eine zweite, durch Stabilisierung aber auch Stagnation geprägte Phase von 1922 bis 1927.
Aufbruch und Expansion (1910-1922)
Vor 1910 konnte die durch die «Jüngere Historische Schule» geprägte Nationalökonomie nur ein kleines Territorium mit wenigen «Gebäuden» für sich auf der «wissenschaftlichen Landkarte» beanspruchen, da sie an der Universität Basel zwar seit 1855 mit einem Lehrstuhl sowie einem staatswissenschaftlichen Seminar vertreten war, jedoch in der inneruniversitären Hierarchie eher ein Schattendasein fristete und nur wenige Studierende anzog. Damit stand Basel allerdings nicht allein da; auch in der übrigen (Deutsch-)Schweiz und in Deutschland war die Nationalökonomie an den Universitäten nur von zweitrangiger Bedeutung.Dies änderte sich 1910, als im Gefolge der Handelshochschulbewegung ein zweiter Lehrstuhl für Nationalökonomie geschaffen und mit Julius Landmann eine äusserst dynamische und veränderungswillige Persönlichkeit als Professor berufen wurde. Die in Deutschland und der Schweiz auftretende Handelshochschulbewegung war aus dem Bedürfnis heraus entstanden, den angehenden Kaufleuten für die Praxis eine vertiefte theoretische Ausbildung auf tertiärer Stufe zu ermöglichen, um so die geschäftlichen Herausforderungen eines zunehmend internationalisierten Handels und der sich neu herausbildenden Grossunternehmen zu meistern. In Basel führte dies nach dem in einer Volksabstimmung gescheiterten Projekt einer Handelshochschule schliesslich zur Errichtung eines zweiten Lehrstuhls für Nationalökonomie an der Universität, der massgeblich von Basler Bankierkreisen mitfinanziert wurde.Mit der Handelshochschulbewegung vergrösserte sich das Territorium der Nationalökonomie auf der «wissenschaftlichen Landkarte», da neue Inhalte dazukamen. Nicht mehr nur Staat und Volkswirtschaft, sondern neu auch das einzelne Unternehmen standen – sehr zum Missfallen der bisherigen «kathedersozialistisch» ausgerichteten Nationalökonomen – vermehrt im Fokus des Interesses. Von dieser inhaltlichen Vergrösserung ihres Territoriums profitierte die Nationalökonomie auch institutionell. Bedingt durch den Einbezug einzelner Unternehmen in die Forschung bedurfte es neuer Materialien, welche die bestehenden Staatsarchive nicht sammelten, weshalb spezialisierte Wirtschaftsarchive gegründet wurden. Dies geschah im Jahr 1910 mit der Gründung des Schweizerischen Wirtschaftsarchivs auch in Basel. Zudem konnte die Nationalökonomie mit dem von Julius Landmann initiierten Seminar für Wirtschaftskunde und Wirtschaftsgeschichte, das organisatorisch mit dem Schweizerischen Wirtschaftsarchiv verknüpft war, einen weiteren Institutionalisierungserfolg verbuchen.Durch ihre Expansion in inhaltlicher und institutioneller Hinsicht schuf sich die Nationalökonomie jedoch nicht nur Freunde, sondern machte anderen Wissenschaften, insbesondere der Rechtswissenschaft, ihr Territorium streitig. Dadurch wurden eigentliche «Grenzkonflikte» ausgelöst, was die Auseinandersetzungen um die Einführung eines Dr. rer. pol. an der Universität Basel und die gleichzeitig ablaufenden Abgrenzungskämpfe von Julius Landmann mit juristischen Experten in der Politikberatung eindrücklich belegen. Ein wichtiger Faktor in diesem Spannungsverhältnis zwischen Juristen und Nationalökonomen war der Erste Weltkrieg, der durch die damit verbundenen wirtschaftlichen Probleme auch in der Schweiz die Nachfrage nach ökonomischem Wissen verstärkte. Dies wirkte sich auf dem Arbeitsmarkt durch die Schaffung von neuen Arbeitsmöglichkeiten für Nationalökonomen in staatlicher Verwaltung, Verbänden und Unternehmen aus. Auf diese neu geschaffene Nachfrage wollte Julius Landmann durch die Einführung eines auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes zugeschnittenen Studiengangs für Nationalökonomen reagieren, was nach zähen Auseinandersetzungen mit der Juristischen Fakultät und der Einführung eines Dr. rer. pol. im Jahr 1922 denn auch gelang. Weniger erfolgreich war Landmann hingegen in der Politikberatung, wo es den Juristen im Bereich des Steuerrechts gelang, ihre Position zu behaupten und – begünstigt von den politischen Umständen – Julius Landmann zu verdrängen.
Stabilisierung und Stagnation (1922-1927)
Die zweite Entwicklungsphase von 1922 bis 1927 brachte der Nationalökonomie auf der «wissenschaftlichen Landkarte» keine territorialen Gewinne mehr. Dafür fehlte es einerseits an äusseren Impulsen, wie sie die Handelshochschulbewegung oder der Erste Weltkrieg geliefert hatten, andererseits stagnierte die Nationalökonomie auch ideell, da sie – bedingt durch das Nachwirken der «Jüngeren Historischen Schule» – die Entwicklung im angelsächsischen Raum etwas verschlief. Entsprechend der Stagnation auf der inhaltlichen Ebene bewegte sich auch institutionell kaum noch etwas, abgesehen von der Gründung des Statistischen Seminars. Diese gelang allerdings im Vergleich zu früheren Gründungen erst im zweiten Anlauf, ein weiterer Hinweis auf die verloren gegangene Dynamik. Trotz Stagnation gab es jedoch auch Entwicklungen, welche für die Zukunft positive Aussichten verhiessen. Der neu eingeführte Dr. rer. pol. erhöhte die Attraktivität des Ökonomiestudiums und führte zu steigenden Studentenzahlen. Allerdings war der neue Studienabschluss auch mit gewissen «Geburtsfehlern» behaftet. Die breite Ausrichtung mit nationalökonomischen und juristischen Fächern brachte die Studierenden teilweise an die Grenzen ihres Leistungsvermögens. Ausserdem war die Nationalökonomie für die praktische Umsetzung des Studiengangs auf die Zusammenarbeit mit ihren alten Rivalen in der Juristischen Fakultät angewiesen, mit denen man erst nach erneuten Auseinandersetzungen einen für beide Seiten annehmbaren Modus Vivendi fand.
Chancen und Risiken einer interdisziplinären Wissenschaft
Während diesen beiden Entwicklungsphasen zeigte die Nationalökonomie in verschiedener Hinsicht ihren Charakter als «science des frontières». Geprägt von der interdisziplinär ausgerichteten «Jüngeren Historischen Schule» schotteten sich ihre Vertreter nicht ab, sondern pflegten weiterhin Bezüge zur Geschichte, zur Mathematik und – trotz aller Auseinandersetzungen – zur Rechtswissenschaft. Ausserdem bot die Nationalökonomie durch ihre inhaltliche Offenheit Raum für neu entstehende Disziplinen wie Betriebswirtschaftslehre und Soziologie. Letzter Höhepunkt dieser Entwicklung war der in der Tradition der Staatswissenschaften stehende, inhaltlich breit angelegte Dr. rer. pol.. Zugleich stiess aber die «science des frontières» damit auch an ihre Grenzen. Überforderte Studenten, andauernde Abhängigkeit von der Juristischen Fakultät, sowie das Scheitern des Generalisten Julius Landmann in der Auseinandersetzung mit Spezialisten des Steuerrechts zeigten, dass die Nationalökonomie auf Spezialisierung und Innendifferenzierung nicht mehr verzichten konnte, wenn sie sich langfristig ihr eigenes, unbestrittenes Territorium auf der «wissenschaftlichen Landkarte» sichern wollte.
Die vollständige Arbeit wurde durch das Schweizerische Wirtschaftsarchiv veröffentlicht und kann via IDS Basel Bern heruntergeladen werden. Link zur Arbeit hier [»]
Advisors:Dommann, Monika
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Materialfluss 1850-2000 (Dommann)
UniBasel Contributors:Dommann, Monika
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:39
Deposited On:06 Feb 2018 11:27

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