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"Den Nazis die Stirn bieten!" Die Ulmer Abiturienten im Nationalsozialismus

Pfister, Benedikt Samuel. "Den Nazis die Stirn bieten!" Die Ulmer Abiturienten im Nationalsozialismus. 2005, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Official URL: https://edoc.unibas.ch/60466/

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Abstract

1. Einleitung
Im Frühjahr 2005 kam der Film „Sophie Scholl“ in die Schweizer Kinos. Auf eindrückliche Weise wurden die letzten Tage des Lebens der jungen Studentin Sophie Scholl nachgezeichnet. Sophie Scholl wurde als Mitglied der Weissen Rose wegen Widerstandshandlungen gegen den Nationalsozialismus am 22. Februar 1943 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die Weisse Rose hatte Flugblätter gegen das Nazi-Regime geschrieben und verbreitet. Mit Sophie Scholl starben am selben Tag ihr Bruder Hans Scholl und ihr Freund Christoph Probst.
In anschliessenden Untersuchungen und Verhandlungen der Nazis gegen die Weisse Rose wurden neben dem Kern der Gruppe aus München auch Mitglieder aus anderen Städten verhaftet, vor das Gericht gestellt und zum Teil hingerichtet. Eine dieser Gruppen der Weissen Rose kam aus Ulm.
Die sogenannten „Ulmer Abiturienten“ sind Thema meiner Lizentiatsarbeit. Die Mitglieder der Ulmer Abiturienten waren Schüler des Humanistischen Gymnasiums in Ulm. Als Ulmer Abiturienten bezeichne ich in meiner Arbeit Franz Müller, Heinrich Guter, Hans und Susanne Hirzel. Bei den vier genannten Personen handelt es sich um sehr unterschiedliche Menschen. Alle vier werden in dieser Arbeit ausführlich beleuchtet. Die Person Franz Müller steht bei den Untersuchungen im Vordergrund. Hans Hirzel wird als Gegenpol zu Franz Müller ebenfalls viel Raum gegeben.
Die Rezeption der Weissen Rose wird bis heute durch das Buch „Die Weisse Rose“ von Inge Scholl stark geprägt. Bis jetzt fehlt in der Literatur eine Gesamtdarstellung der Weissen Rose, die die sogenannten Untergruppen mit ihren Geschichten berücksichtigt. Die Ulmer Abiturienten traten in der Geschichte der Weissen Rose durch eine Flugblatt-Aktion auf. Hans Hirzel erhielt im Januar 1943 von Sophie Scholl mehrere hundert Exemplare des 5. Flugblatts der Weissen Rose. In der Martin-Luther-Kirche in Ulm machte er dieses mit Franz Müller postfertig. Heinrich Guter war über die Aktion informiert, wollte sich aber nicht daran beteiligen. Hans Hirzel brachte dann die Briefe mit den Flugblättern nach Stuttgart, wo sie zum grössten Teil von Hans’ Schwester Susanne Hirzel in Briefkästen geworfen wurden. Bis heute wird diese Flugblatt-Aktion der Ulmer Abiturienten in der Literatur zur Weissen Rose unvollständig oder sogar falsch dargestellt. Auch in neueren wissenschaftlichen Büchern zur Weissen Rose wird die Aktion der Ulmer Abiturienten gar nicht erwähnt und Sophie Scholl für die Verbreitung der Flugblätter in Stuttgart allein verantwortlich gemacht. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Ulmer Abiturienten ist also nötig, um diese Lücken zu schliessen.
Hauptquelle meiner Arbeit sind die Verhörprotokolle der Geheimen Staatspolizei. In einem ersten Schwerpunkt der Arbeit werden die Gestapo-Akten der Ulmer Abiturienten ausgewertet. Dies ermöglicht implizit die Rekonstruktion der Flugblatt-Aktion. In erster Linie wird aber untersucht, wie die einzelnen Mitglieder der Ulmer Abiturienten mit der Extremsituation eines Gestapo-Verhörs umgingen. Es wird der Versuch unternommen, Verhaltensweisen für die einzelnen Mitglieder der Ulmer Abiturienten herauszuarbeiten.
Anhand der Gestapo-Akten, Interviews mit den Beteiligten und weiterer Dokumente befasst sich ein zweiter Schwerpunkt mit den Lebensverhältnissen der Ulmer Abiturienten. Die Sozialisation der Ulmer Abiturienten wird an den Bereichen Familie, Freundeskreis, Schule und Religion untersucht und mit Fokus auf Franz Müller ausgewertet.
Die Arbeit ist in acht Kapitel gegliedert. Im zweiten Kapitel wird auf die Quellen eingegangen und speziell der Umgang mit Zeitzeugeninterviews als Quelle theoretisch aufgearbeitet. Im dritten Kapitel werden allgemeine Informationen zum deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus geliefert. Dies erleichtert die Einschätzung und Beurteilung des Widerstandes der Ulmer Abiturienten.
Im vierten Kapitel werden die Verhaltensweisen der Ulmer Abiturienten vor der Gestapo untersucht und eine Rekonstruktion ihrer Flugblatt-Aktion geliefert. Im anschliessenden Kapitel wird der zweite Prozess gegen die Weisse Rose geschildert. Die Gestapo-Akten dienten dem Vorsitzenden des Volksgerichtshofs Roland Freisler als Verhandlungsunterlagen gegen die Ulmer Abiturienten. Alle Ulmer Abiturienten erhielten Gefängnisstrafen. Die Prozess- und Hafterfahrung der Ulmer Abiturienten wird in diesem fünften Kapitel geschildert. Das sechste Kapitel stellt die Lebensverhältnisse im Nationalsozialismus von Franz Müller und den Ulmer Abiturienten dar. Die Sozialisation wird an den oben erwähnten Bereichen dargestellt. Das siebte Kapitel bietet einen Ausblick in die Nachkriegszeit. Wie lebten die Ulmer Abiturienten mit ihrer Widerstandserfahrung in der Bundesrepublik Deutschland? Wurde sie als Chance oder Hypothek erlebt oder war sie gar kein Thema? Im achten und letzten Kapitel werden die erarbeiteten Befunde zu Franz Müller geschildert und der Schlussbefund dargestellt.
2. Befunde
Die Bearbeitung der Quellen führt zu einigen Schlussbefunden zu Franz Müller und den Ulmer Abiturienten. Die Konzentration auf eine Einzelperson ermöglicht eine genauere Untersuchung der Fragestellungen. Denn ein Hauptbefund zu den Ulmer Abiturienten ist die Heterogenität der Gruppe. Die Sozialisation der einzelnen Mitglieder weist zwar viele Parallelen auf. Die Konzentration auf Müller ermöglicht aber einen vertieften Blick (etwa bzgl. Familie) auf die Verhaltensweisen und die Lebensverhältnisse im Nationalsozialismus. Das Festhalten von Befunden zu allen Ulmer Abiturienten wäre wünschenswert für zukünftige Arbeiten, würde den Rahmen dieser Arbeit aber sprengen.
2.1. Müllers katholische Familie mit ihrer bäuerlichen Herkunft war nicht Teil eines antifaschistischen Milieus. Der katholische Glaube spielte eine wichtige Rolle und führte nach Müllers Aussage bei der Mutter zu einer Abneigung gegenüber den brutalen Nationalsozialisten. Der Vater aber war bereits 1933 in die NSDAP eingetreten und im Reichsnährstand als Beamter angestellt. Franz Müller begann sich spätestens mit dem Eintritt ins Humanistische Gymnasium von der Familie zu emanzipieren. Es war aber keine Loslösung im Streit. Die Eltern standen nach Müllers Verhaftung hinter ihrem Sohn.
2.2. Der Freundeskreis (die Ulmer Abiturienten und weitere Schulkameraden) von Müller wuchs im Gymnasium zusammen. Die mit der Zeit als primitiv erlebte Hitlerjugend führte bei Müller zu einem Rückzug ins Private. Der Freundeskreis entwickelte ein eigenes Verhalten und fühlte sich besser und intelligenter, den Nazis überlegen. Er bildete für Müller eine elitäre Gegenwelt zum Nationalsozialismus. Der Freundeskreis bestand aus heterogenen Mitgliedern, die mit ihren unterschiedlichen Herkünften und Ideen für einen regen Austausch untereinander sorgten. In der Gruppe wurde offen diskutiert, auch systemkritische Fragen. In der Schulkasse war das eigenwillige Auftreten des Freundeskreises respektiert.
2.3. Diese Schulklasse am Humanistischen Gymnasium Ulm scheint tatsächlich einen sehr speziellen Geist gehabt zu haben.So sassen noch 1943 HJ-Führer und NS-Gegner in derselben Klasse und wussten voneinander, ohne dass es zu Anzeigen kam. Müller fühlte sich in der Klasse zuerst nicht richtig wohl. Seine einfache Herkunft aus einem bäuerlichen Milieu machte ihm zu schaffen. Durch ein freches Auftreten und viele Streiche wurde er aber schnell akzeptiert. Im Unterricht kam er mit christlich-humanistischem Gedankengut in Kontakt, das ein wichtiges Fundament seiner Ablehnung des Nationalsozialismus wurde.
2.4. Als am Gymnasium der Religionsunterricht verboten wurde, ging der katholische Teil des Freundeskreises zu Pater Adolf Eisele. Dieser vermittelte fundiertes theologisches Wissen. Müller war als Ministrant bereits früher praktizierender Katholik. Dies wurde ihm von zuhause mitgegeben. Bisher hatte er sich aber kaum mit theologischen Fragen beschäftigt. Die tiefe Auseinandersetzung mit dem bei Pater Eisele Gehörtem gab dem katholischen Glauben von Müller ein Fundament, das Christentum als Alternative zum Nationalsozialismus zu verstehen.
2.5. Müller und sein Freundeskreis bildeten ein eigenes Milieu der Selbstbehauptung. Dass Müller zum Widerstandskämpfer wurde, war dennoch keine logische Folge. Es gibt keine lineare Entwicklung bei Franz Müller von der Ablehnung des Nationalsozialismus in den Widerstand dagegen. Hans Hirzel, der Kontakt zu Hans und Sophie Scholl hatte und der eigentliche Kopf der Flugblatt-Aktion war, bat seinen Freund Franz Müller um Unterstützung. Müller sagte nicht sofort zu. Nach nochmaliger Bitte Hirzels entschied sich Müller dann aber, bei der Flugblatt-Aktion mitzuhelfen. Es war eine bewusst gefällte Entscheidung von Müller. Er wusste, mit der Aktion gegen den Nationalsozialismus zu handeln.
2.6. Als Müller verhaftet und der Gestapo vorgeführt wurde, merkte er bald, dass die Gestapo über die Flugblatt-Aktion genau Bescheid wusste. Die Beteiligung an der Aktion zu leugnen, wäre sinnlos gewesen. Franz Müller versuchte deshalb, seine Bedeutung für die Aktion herunterzuspielen. Er stellte sich so dar, dass er nichts gegen den Nationalsozialismus als solchen hatte, sondern kritisierte einzelne Punkte. Franz Müller verhielt sich vor der Gestapo als systeminterner Kritiker der NSDAP. Der Volksgerichtshof unter Roland Freisler folgte Müllers Argumentation und fand, dass Müller unter dem Einfluss Hirzels stand. Dennoch bestärkte die Prozesserfahrung Müllers Ablehnung des Nationalsozialismus. Die Verhandlung war eine Farce. Es wurden den Angeklagten willkürlich Verteidiger zugeteilt, die teilweise die Anklage nicht kannten. Ausserdem schrie Freisler dauernd und nahm die Leute nicht ernst. Müllers Verhalten und seine Aussagen vor der Gestapo bewahrten ihn vor einer härteren Strafe. Wenn er - und auch die übrigen Ulmer Abiturienten - sich als fundamentale Gegner des Nationalsozialismus dargestellt hätten, wäre Freislers Urteil sicher anders ausgefallen. Nach dem Prozess vom 19. April 1943 blieb Müller bis Kriegsende in Haft. Diese Zeit liess ihn nie mehr los. Müller erlebte die Gefängnisse als eigene Welt, in die der Nationalsozialismus nur beschränkt eingedrungen war. Die Bedeutung der Religion nahm für Müller während der Haft stark zu.
2.7. Nach dem Krieg zog sich Franz Müller ins Private zurück. Er distanzierte sich von der Gesellschaft des Nachkriegsdeutschlands. Die Nachkriegsbiographien der Ulmer Abiturienten unterscheiden sich enorm. Müller hatte am meisten Mühe, für sich einen Platz in dieser Gesellschaft zu finden. Mit Beginn seiner politischen Tätigkeit in den 70er Jahren begann für Müller das Leben in der neuen Gesellschaft. Seine Erlebnisse im Dritten Reich wurden zu seinem Lebensinhalt in der Bundesrepublik. Höhepunkt und zugleich Lebenswerk war 1987 die Gründung des Vereins ‘Weisse Rose-Stiftung’. Für Franz Müller war die Erinnerung an die Weisse Rose in erster Linie ein politisches Anliegen und ein Wunsch nach persönlicher Anerkennung. Ein wissenschaftliches Aufarbeiten der Weissen Rose stand nicht im Vordergrund. Der Verein brachte Franz Müller denn auch die Anerkennung einer Gesellschaft, in die er zuerst gar nicht zurückkehren wollte.
Abschliessend möchte ich zu diesen Befunden zwei Punkte festhalten:
A. Die im sechsten Kapitel ‚Lebensverhältnisse im Nationalsozialismus’ untersuchten vier Sozialisationsbereiche waren für die Entwicklung von Franz Müller in seinen Jugendjahren sehr wichtig. Sie hatten alle einen grossen Einfluss auf sein Denken und Werden in nationalsozialistischen Verhältnissen. Die Familie gab einen Halt, auf die sich Müller in Schwierigkeiten verlassen konnte. Die Religion und die Auseinandersetzung damit gab ihm eine gefühlsmässige Heimat. Der Unterricht in der Schule und die Vermittlung von christlich-humanistischer Bildung förderte bei Müller das kritische Denken. Entscheidend für Müller, Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu leisten, war der Freundeskreis und speziell sein Freund Hans Hirzel. Ohne ihn hätte Müller nicht die Möglichkeit erhalten, bei der Verbreitung von Flugblättern zu helfen.
B. Müllers Werden zum Gegner des Nationalsozialismus wurde durch drei Erfahrungen geprägt. Dabei war diese Entwicklung bei der Flugblatt-Aktion im Januar 1943 noch nicht abgeschlossen. Durch die Schilderungen seiner Mutter und die Erlebnisse in der Hitlerjugend kam Müller mit einem Nationalsozialismus in Berührung, den er als „primitiv“ empfand. Durch seine starke Religiosität und den Kampf des Nationalsozialismus gegen die Religionen erlebte Müller den Nationalsozialismus als „antireligiös“. Durch die Erfahrung vor der Gestapo, vor dem Volksgerichtshof unter Freisler und in der Haft kam Müller zum Schluss, dass es sich beim nationalsozialistischen Deutschland um einen „ungerechten“ Staat handelte.
Advisors:Mooser, Josef
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Neuere Allgemeine Geschichte (Mooser)
UniBasel Contributors:Mooser, Josef
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:39
Deposited On:06 Feb 2018 11:27

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