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Die Aussagen der Zeugen. Frühe Hexenprozesse in der Leventina

Molteni, Karin. Die Aussagen der Zeugen. Frühe Hexenprozesse in der Leventina. 2006, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Official URL: https://edoc.unibas.ch/60413/

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Abstract

„Er habe einst dem Brauch gemäss die Brote für die Speisung der Armen backen lassen müssen. Er habe deshalb zwei Ofenladungen gebacken und sie anschliessend in einem seiner Gebäude im Erdgeschoss auf Tellern ausgebreitet, so wie es üblich ist. Da sei Maffia gekommen und habe zu ihm gesagt: «Ich würde gerne dieses Brot sehen, welches du gebacken hast, ob es schön geworden ist oder nicht.» Und er habe geantwortet: «Geh und schau selbst, wie schön es ist.» Maffia sei daraufhin in jenes Gebäude gegangen, um das Brot mit den Fingern zu berühren und habe es auch umrundet. Nachdem sie das Brot jedoch umrundet habe, sei es in sich zusammengefallen und hätte sehr unschön und geradeso wie Kuhfladen ausgesehen. Ebenso sei der Teig, den er bereits vorbereitet hatte, plötzlich nicht mehr aufgegangen, so wie es normal wäre, und tatsächlich habe er damals während dreier Tage kein Brot mehr backen können.“
Dies waren die Worte eines Zeugen namens Zane de Perina von Madrano im Prozess gegen Maffia Belli, der am 14. August 1457 in Faido stattfand. Beim ersten Lesen einer solchen Aussage entsteht vielleicht ein kleines Lächeln auf dem Gesicht und man versucht sich vorzustellen, wie man heutzutage im Gerichtssaal auf Gelächter stossen würde, wenn man so etwas erklärt bekommt. Doch sobald man erfährt, dass die Angeklagte Maffia Belli kurz darauf hingerichtet wurde, fällt das Lachen schwer. Hier fragt man sich, wie konnte es dazu kommen, dass eine Frau, die ein paar Brote berührt hat, mit dem Tod bezahlen musste? Wer war dafür verantwortlich? Warum glaubte Zane de Perina, dass Maffia eine Hexe sei? Und warum glaubten es auch die anderen? Was hat die Zeugen dazu bewegt, gegen diese Frau auszusagen? Fragen auf die in dieser Arbeit eine Antwort gesucht wird.
Die Arbeit befasst sich mit den Anfängen der Hexenverfolgung in der Leventina, jenem Tal des Kantons Tessin, welches sich von Bellinzona bis hinauf zum Gotthard erstreckt. Es handelt sich genauer um das Gebiet nördlich von Biasca, das sich ab 1439 unter Herrschaft (zunächst provisorisch) der Urner befand. Den Kern dieser Hexenverfolgung bilden 40 Hexenprozesse, die im Zeitraum von 1431 bis 1459 in Faido stattfanden. Aus diesen Prozessen wurden für die Lizentiatsarbeit hauptsächlich die jeweiligen Zeugenaussagen angeschaut, die in sechzehn Fällen vorhanden waren.
Die Aktenbestände sind zwar sehr fragmentarisch überliefert, doch im Gegensatz zu anderen frühen Zeugnissen von Hexenprozessen haben sich im Tessin nicht nur Verhörakten, sondern auch Zeugenaussagen erhalten. Damit eröffnet sich die Gelegenheit, die Prozesse gleichsam aus zwei Perspektiven verfolgen zu können, was bei frühen Hexenprozessen ein seltener Glücksfall ist. Ziel der Arbeit war nicht die Dynamik und die Struktur der ganzen Prozesse zu rekonstruieren, sondern vielmehr die Zeugenaussagen unter die Lupe zu nehmen, um daraus auf magische Vorstellungen, Ideologien und Volksglaube der damaligen Talbewohner schliessen zu können.
Konkret: Glaubten die Bewohner der Leventina tatsächlich an Hexen? Hatten sie von Teufel und Teufelspakt eine Ahnung? In welcher Art und Weise wurden die gelehrten Hexenbilder von der Bevölkerung wahrgenommen? Wie weit sind diese ins Bewusstsein der Unterschicht eingedrungen? Welche magischen Vorstellungen gab es in der Leventina? Anhand bekannter Hexentraktate wird anschliessend auch ein Vergleich zwischen den magischen Vorstellungen im deutsch-französischen und im italienischen Raum aufgestellt. Gibt es regionale Unterschiede? Gibt es in der Leventina Ähnlichkeiten mit den Vorstellungen, die z.B im „Hexenhammer“ geschildert werden? Diese und weitere Fragen wurden im Zuge der Arbeit untersucht.
Zum Inhalt der Arbeit
Die Arbeit verfolgt die o.g. Fragestellungen in insgesamt sieben Kapiteln, in denen – nach einer knappen Darstellung des Forschungsstandes – zunächst die Herrschafts- und Lebensverhältnisse in der spätmittelalterlichen Leventina dargestellt werden, bevor sich die Arbeit auf die dortigen Hexereiprozesse des 15. Jahrhunderts im engeren Sinn konzentriert und die Beteiligten sowie die Verfahrensweise in den genannten Prozessen präsentiert. Im Kapitel 6 und 7 werden dann differenziert alle Zeugenaussagen präsentiert und nach den dort enthaltenen magischen Vorstellungen hin untersucht und im Kapitel 8 nach Ähnlichkeiten mit den Vorstellungen der frühen Dämonologen (vor allem im „Hexenhammer“, aber auch im „Formicarius“ und in den „Errores Gazariorum“) gesucht. Im Kapitel 9 werden schliesslich die beobachteten Hexereivorstellungen aus der Leventina in Beziehung zu Vorstellungen und Praktiken gesetzt, wie sie sich in anderen Regionen der Eidgenossenschaft bzw. des Alpenraums (etwa in der Deutschschweiz, im Wallis oder im Herzogtum Mailand) fanden.
Zum Quellenmaterial
Das zentrale Quellenmaterial der Arbeit bilden die heute im Staatsarchiv von Bellinzona gelagerten Hexenprozessakten. Diese wurden im Archiv des „Pretorio di Faido“ aufbewahrt und von Emilio Motta nach ihrer Entdeckung in den 1880er-Jahren zum ersten Mal beschrieben. In den Jahren 1978 bis 1981 erfolgte dann die Publikation einer ersten vollständigen Transkription durch Padre Rocco da Bedano im „Archivio Storico Ticinese“. Diese erste Umschreibung der Schriften wies jedoch mehrere Lücken auf. Deshalb erfolgte ab 1986 eine neue integrale Transkription durch Giuseppe Chiesi für die „Materiali e Documenti Ticinesi“ (MDT). Ziel der Materiali e Documenti Ticinesi ist es, die Quellenbestände im Kanton Tessin, in zahlreichen Einzelarchiven verstreut, zusammenzuführen und in chronologischer Reihenfolge zu publizieren.
Das überlieferte Quellenmaterial der Leventina erstreckt sich über einen Zeitraum von insgesamt 28 Jahren: Im Jahr 1431 wird unter der Herrschaft Mailands und somit der Visconti eine Frau beim Vogt denunziert. Nur ein Jahr später, 1432, erscheint die Inquisition im Tal und in Faido findet vor kirchlichem Gericht der Prozess gegen eine Agnese Argionelli aus Altanca bei Airolo statt. Die restlichen Prozesse werden im Zeitraum von zwei Jahren von 1457 bis 1459 unter der Herrschaft der Urner durchgeführt, welche sich 1439 erneut in der Leventina niedergelassen haben. Diese Prozesse bilden den Anschluss an denjenigen aus dem Jahr 1432, denn die ersten verhafteten Personen der Prozesswelle von 1457-1459 sind die Kinder der Agnese Argionelli. Die Hexereimaterialien bilden für die Leventina den grössten zusammenhängenden Quellenbestand des 15. Jahrhunderts. Beim ansonsten überlieferten Material handelt es sich nämlich vor allem um notarielle Urkunden wie Schenkungen, Pacht- und Kaufverträge, sowie Bestimmungen über kirchliche Stiftungen.
Warum sind die Hexenprozesse in der Leventina besonders interessant?
Die Prozesse in der Leventina finden ziemlich früh statt, in einem relativ zentralen Gebiet zwischen Deutsch-, Westschweiz und Norditalien und dies schenkt ihnen eine besondere Bedeutung. In der aktuellen Forschung geht man nämlich davon aus, dass sich das neue Hexenstereotyp, welches die Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit prägen wird, in den Jahren von 1430-1440 im Gebiet von Aostatal und Genfersee zu einem klaren Bild formiert. Es sind hier Elemente wie der Sektengedanke, der Teufelspakt, der Sabbat, der Hexenflug und Kindsmord vorhanden. In den Verhörfragmenten der Agnese Argionelli aus dem Jahr 1432 findet man jedoch auch schon die Erwähnung eines Teufelspaktes. Diese Geständniselemente sind dem Hexenbild bedeutend näher als etwa die Verhörelemente, wie sie in der Deutschschweiz, besonders im Luzernischen um 1450 auftauchen.
Den Prozessen in der Leventina könnte demzufolge eine wichtige Funktion bei der Etablierung des neuen Hexenstereotyps zukommen. Welche Rolle spielen die Prozesse bei der Formierung des jungen Hexenbildes? Könnten sie diejenigen sein, welche Einfluss auf die Gebiete der anderen Seite des Gotthards ausgeübt haben und nicht umgekehrt?
Eine erste Besonderheit der Hexenprozesse in der Leventina besteht darin, dass die Verfolgung durch ein weltliches Gericht und nicht von den kirchlichen Inquisitionsgerichten durchgeführt wird, wie es zu jener Zeit zu erwarten gewesen wäre. Die Frage nach der Gerichtsbarkeit ist in diesem Fall besonders interessant, weil sich die Leventina zum Zeitpunkt der Prozesse seit etwa 20 Jahren unter Urner Herrschaft befand.
Eine weitere Besonderheit der Hexenprozesse in der Leventina ist die grosse Zahl überlieferter Zeugenaussagen. Sie zeigt, wie bereitwillig die Bevölkerung über Hexenverdächtigungen Auskunft gab. Die Aussagen zeigen die für Hexenprozesse übliche Dichotomie: Während die Angeklagten in den Verhören Elemente eines gelehrten Hexenbildes (Teufelspakt, Flug, Sabbat) gestehen, ist in den Zeugenaussagen immer nur von volkstümlichen Malefizien die Rede (Krankheit und Tod von Menschen, Tieren usw.). Für die Bevölkerung der Leventina trägt die Hexe eher die Züge einer Zauberin, welche weisse, wie auch schwarze Magie beherrscht. Auffallend ist, dass sie als Einzelperson agiert. Doch für die Oberschicht, und damit sind vor allem die Richter gemeint, handeln die Hexen in der Leventina nicht allein und alle Taten werden mit dem „Teufel“ in Verbindung gebracht. Es scheint, als hätten Richter und Zeugen aneinander vorbeigeredet, obwohl nicht völlig geklärt ist, ob dies bewusst oder unbewusst geschah. Die Diskussion um den Gerichtsdiskurs in Hexenprozessen und somit die Verwendung unterschiedlicher Hexenbilder durch unterschiedliche Bevölkerungsschichten, steht erst am Anfang. Weitere Forschung wird hoffentlich noch Klärung bringen.
Advisors:Opitz-Belakhal, Claudia
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Geschichte der frühen Neuzeit (Opitz-Belakhal)
UniBasel Contributors:Opitz Belakhal, Claudia
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:38
Deposited On:06 Feb 2018 11:27

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