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Entwichene russische Kriegsgefangene in der Schweiz 1942-1945

Leisinger, Thomas. Entwichene russische Kriegsgefangene in der Schweiz 1942-1945. 2006, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Official URL: https://edoc.unibas.ch/60324/

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Abstract

Der Aufenthalt von entwichenen „russischen“ Kriegsgefangenen (EKG) aus Kriegsgefangenen- und Arbeitslagern ist ein weiterer, heikler Aspekt der Schweizer Asylpolitik während des Zweiten Weltkrieges. Die Internierung war insofern problematisch, als dass die Schweiz seit 1918 mit der Sowjetunion keine diplomatischen Beziehungen mehr unterhielt. Die in der Schweizer Bevölkerung und bei deren Behörden weit verbreitete diffuse Angst vor dem Bolschewismus, die antisowjetische Stimmung sowie dadurch entstandene negative, stereotype Bilder über die „Russen“ waren denkbar ungünstige Voraussetzungen für ein problemloses Zusammenleben. Worin gründen aber diese Spannungen mit den „Russen“? Nebst zahlreichen persönlichen Konfliktfeldern der Direktbetroffenen können in der Untersuchung zwei Hauptpunkte ausgemacht werden, welche dazu führten, dass das Leben der EKG in den stellvertretend ausgewählten Arbeitslagern Andelfingen und Le Chaluet häufig von Meinungsverschiedenheiten und Konflikten geprägt war: Die Rahmenbedingungen, welche die Wahrnehmungen jedes einzelnen Akteurs nachhaltig prägte und die Wechselbeziehungen zwischen Internierten, Schweizer Behörden, IKRK und Anwohnern.
Der theoretisch-methodische Ansatz der Arbeit besteht darin, die Fragestellungen aus der Perspektive der Lebenswelt zu ergründen. Trotz des im Gesamten gesehen nicht zahlreichen Aktenmaterials ist es möglich, aufgrund des lebensweltlichen Zugangs zur Geschichte den Alltag, die gegenseitige Wahrnehmung und Handlungsstrategien zu untersuchen. Zwingend notwendig sind dabei die Rahmenbedingungen zur Bewertung des Lagerlebens, da man sonst manche Verhaltensweise nicht verstehen würde.
In der vorliegenden Arbeit kristallisierte sich dabei heraus, dass das Leben in beiden Internierungslagern bildlich gesprochen in einer Wellenform mit zwei Höhepunkten verlief. Auf der x-Achse wird die Zeit und auf der y-Achse die Unmutsäusserung der „Russen“ aufgeführt.
Als die ersten „russischen“ EKG im Dezember 1942 in das Lager Andelfingen eingewiesen wurden, nahmen sie dies anstandslos hin. Sie waren sich bei ihrer Flucht in die Schweiz bewusst, dass man sie wohl nicht einfach in Freiheit irgendwo wohnen lassen würde. Einige waren ganz glücklich, in einem fremden Land Kontakt zu Landsleuten zu haben. Die Lagerordnung im Arbeitslager musste zwar strikt befolgt werden, gab jedoch kaum Anlass zur Kritik. Die Verrichtung von Arbeit war in beiden Lagern obligatorisch.
Viele waren froh, während des Tages einer Tätigkeit nachgehen zu dürfen, die den Alltag strukturierte, von der oft als bedrückend empfundenen Situation ablenkte und dem Lagerdasein Sinn und Zweck verlieh. Im Verlaufe des Januars 1943 begann sich eine gewisse Unzufriedenheit im Lager zu verbreiten. Die „Russen“ konnten nicht verstehen, warum die Frage der Gestaltung ihrer Freizeit so schwierig war. Ihre serbischen Lagerkollegen hatten in der Person von Vuskovic jemanden, der ihnen Sprachunterricht gab und sich auch um die Freizeitgestaltung bemühte. Die Unzufriedenheit kam nicht nur daher, dass der Delegierte des IKRK bis Mai 1943 auf seinen ersten Besuch warten liess, sondern eher, weil sie sich ungleich behandelt fühlten. Die Diskussionen über den Deutschunterricht oder Filmvorführungen stiessen bei den „Russen“ auf Unverständnis. Wie sich in der Untersuchung zeigte, spielte der IKRK-Delegierte eine besondere Rolle, da er seine Funktion als „neutrale“ Aufsichtsperson über die Behandlung der „Russen“ zu wenig wahrnahm und somit die politischen Entscheidungsträger beeinflusste. Die meisten „russischen“ EKG hielten sich nach der Ernennung von Dessonnaz ihm gegenüber eher auf Distanz. Hier hinein spielte der Faktor, dass die Sowjetregierung mit dem IKRK keine Beziehungen unterhielt und zudem im Roten Kreuz eine von der Schweizer Regierung gesteuerte Organisation sah. In den Berichten von Dessonnaz überwiegt die Schilderung von Sachverhalten. Seine persönliche Wahrnehmung versucht er darin zu verbergen. Ein vertrauliches Verhältnis zwischen Internierten und Delegierten kam nicht zu Stande. Daher sind durchaus Parallelen zwischen den Berichten des IKRK-Delegierten und den offiziellen Untersuchungen über zentrale Ereignisse in Andelfingen und Le Chaluet ersichtlich. Probleme und Kritiken am Führungsstil der Russenlager fanden in den Rapporten kaum ihre Erwähnung. Die Annahme mancher „Russen“, das IKRK sei eine von der Schweizer Regierung gelenkte Organisation, besass durchaus eine Berechtigung.
Die Unzufriedenheit der „Russen“ in Andelfingen steigerte sich im Februar 1943 immer mehr, bis sie am 23. Februar einen ersten Höhepunkt erreichte. Die Welle brach jedoch nicht, sondern gewann eher noch etwas an Kraft. In dieser angespannten Phase lassen sich zwei Formen aufkommender „russischer“ Unmutsäusserungen sehr schön beobachten: stiller und lauter Protest.
Der Beginn des stillen Protestes kündigte sich nach der Ablehnung einer Gedenkfeier zum Todestag Lenins am 22. Februar 1943 an. Die „Russen“ konnten nicht verstehen, warum man ihnen eine Gedenkfeier nicht gestatten wollte. Zusammen mit dem Gefühl, gegenüber den Serben ungerechter behandelt zu werden, besannen sich die „Russen“ auf ihre eigenen Stärken – das Kollektiv.
Fremde in der Schweiz zu sein, einem Land, über das man nichts wusste, welches eine fremde Religion, eine fremde Kultur, ein in ihren Augen falsches politisches System hatte und eine arrogante Politik gegenüber der Sowjetunion betrieb, stärkte ihren inneren Zusammenhalt. Ausdruck dieses „Abgrenzungsverhaltens“ war sowohl in Andelfingen als auch in Le Chaluet der übermässige Genuss von Alkohol und weitere Verstösse gegen die Lagerordnung sowie ein verstärkter Sowjetpatriotismus. Die Schweizer Behörden hatten den übermässigen Konsum und den Ausschank von Alkohol verboten. Diese Weisung befolgten jedoch weder die Schweizer Wirte noch die „Russen“, was seitens der EKG als eine Art Trotzreaktion gedeutet werden kann. Gleiches lässt sich anhand des Patriotismus feststellen. Das Festhalten an nationalen Feiern im Ausland festigte das Selbstbewusstsein, die Gruppenbildung und zeigte die Treue zur Sowjetunion. Ein Phänomen, das nicht nur damals, sondern auch heute bei nationalen Minderheiten, die durch Migration in einem andern Land leben, feststellbar ist. Die im Verlaufe des Frühjahres 1943 errungenen Siege der Roten Armee gegen die Deutsche Wehrmacht stärkten das Selbstbewusstsein der EKG zusätzlich. Sie sahen sich immer mehr als Mitglieder einer siegreichen Nation. Je mehr sich die Schweizer Verantwortlichen am Verhalten der „Russen“ aufrieben, desto mehr zogen sich diese zurück und nahmen eine abweisende Haltung ein. Gerade darin kann die Ursache dafür gesehen werden, dass das Konzept für ein friedliches Zusammenleben zwischen „Russen“ und den Schweizer „Behörden“ praktisch von Beginn weg zum Scheitern verurteilt war.
Einen ersten Höhepunkt dieser Haltung erreichten sicherlich die Konflikte am 23. Februar, einem zweiten ab dem 5. Juli 1943. Aus dem stillen Protest wurde ein lauter. Der stille Protest hatte am 23. Februar ein solches Ausmass erreicht, dass ihm Luft verschafft werden musste. Wie aber konnten die „Russen“ ihrem Unmut nachhaltig Ausdruck verleihen? Die Kommunikation mit Lagerleiter Pfeiffer war aus zweierlei Hinsicht schwierig. Er sprach kein Russisch, beharrte auf seiner Position und hatte auf den stillen Protest am 20. Februar 1943 einzig Sanktionen folgen lassen. Eine sachliche Diskussion war in den Augen der „Russen“ nicht möglich und aus der Sicht der Lagerleitung nicht nötig. Die Schweizer Behörden sahen im Verhalten der „Russen“ keinen stillen Protest, sondern die Bestätigung ihrer eher negativen stereotypen Bilder, welche sie von den „Russen“ hatten. Wie in der Sowjetunion wurde den EKG bewusst, dass Diskussionen mit Führungskräften meist kein Ergebnis hervorbrachten. Das Einzige was half, war ein Arbeiterstreik. Die Verwendung des Arbeiterstreiks als Protestmedium war der einzige Weg der „Russen“, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Sie hatten damit auch Erfolg.
Am 23. Februar 1943 gestand ihnen Otto Zaugg den freien Nachmittag zu. Nach der Arbeitsniederlegung am 6. Juli 1943 wurden sie aus der Obhut von Lagerleiter Pfeiffer entlassen.
Aus der vorliegenden Untersuchungsperspektive heraus flachte die Welle nach der Auflösung des Arbeitslagers Andelfingen wieder ab. Die ersten Monate in Le Chaluet verliefen ruhig. Die Erschiessung des „Russen“ Kiseleff führte jedoch sogleich wieder zu einer Verstimmung im Lager. Die „Russen“ verschafften ihrem Protest Ausdruck, indem sie erneut ihre Arbeit niederlegten. Ein drittes Mal war die Arbeit das Medium, mit welchem die „Russen“ den Schweizer Behörden ein Zeichen geben konnten. Mit der Ernennung Markielovs zum stellvertretenden russischen Offizier beruhigte sich die Lage in Le Chaluet zunehmend. Die Welle verflachte sich wieder. Erst zu diesem Zeitpunkt begannen sich die Fronten zwischen „Russen“ und Schweizern im Lager etwas aufzuweichen. Lagerleiter Sooder sah, dass die Förderung der Disziplin besser durch Markielov erreicht wurde als durch ihn selbst. Die letzten Wochen Markielovs waren dann wieder geprägt durch Anschuldigungen und Anprangerungen gegenüber dem Lagerleiter. Das vormals durchaus gute Verhältnis gegenüber Sooder sollte damit in Abrede gestellt werden, damit man ihm nach seiner Rückkehr keinen Kontakt zu schändlichem kapitalistischen Gedankengut vorwerfen konnte.
Die vorliegende lebensweltliche Untersuchung zu den Lagern in Andelfingen und Le Chaluet wurde vor allem anhand der beiden sozialen Ebenen der „russischen“ EKG und der Schweizer Behörden aufgezeigt. Der Grund hierfür liegt darin, dass sich darüber das umfangreichste Aktenmaterial finden liess. Die Wechselbeziehung zwischen der Ebene der Bevölkerung und den „Russen“ nimmt zwar einen etwas kleineren Umfang ein, ergibt aber durchaus auch wertvolle Erkenntnisse.
Die Schweizer Anwohner in Andelfingen, Court und Moutier waren weit weniger voreingenommen als zahlreiche Mitglieder der Schweizer Behörden. Die Beispiele um das Lager Andelfingen zeigen, dass die „Russen“ und die Schweizer ein getrenntes Leben führten.
Man liess sich in Ruhe. Vergleicht man die Wahrnehmung gegenüber den „Russen“ von damals mit jener gegenüber den Ausländern von heute, können durchaus Parallelen gezogen werden. Auch heute gilt der Grundsatz, wonach die Ausländer in Ruhe gelassen werden, solange diese nicht negativ auffallen. Entstandene stereotype Bilder konnten durch direktes Aufeinandertreffen schnell abgebaut werden. Wie das Beispiel von Maria Klimowa aufzeigte, war der Kontakt zwischen Russinnen und Schweizern oft besser, da das Arbeitsverhältnis und die Geschlechterverhältnisse als natürliche wahrgenommene Hierarchie erhalten blieben und die „russischen“ Frauen nicht mit dem Rückhalt einer Gruppe agieren konnten, sondern isoliert lebten und dadurch von den Schweizer Arbeitgebern auch abhängiger waren.
Weitere Untersuchungen zum Verhältnis zwischen den „russischen“ EKG, besonders Frauen, und der Schweizer Bevölkerung müssten noch ausgearbeitet werden. Dabei wäre es interessant zu schauen, inwieweit die Presse das Bild gegenüber den „Russen“ prägte. In der vorliegenden Arbeit wurde angetönt, dass der Verlauf des Krieges bei der Veränderung des „Russenbildes“ eine wichtige Rolle spielte. Die Sympathie gegenüber den „Russen“ stieg mit den zunehmenden Siegen der Roten Armee.
Nach der ersten Repatriierungswelle vom Oktober 1944 und den erfolgreichen Verhandlungen zwischen der Schweizerischen und der sowjetischen Militärdelegation ebbte auch die Welle, welche die Unzufriedenheit der „russischen“ EKG repräsentierte ab. Aus Sicht der Schweiz konnten sie der Internierung von „russischen“ EKG letztlich doch noch etwas Positives abgewinnen. Dank ihnen trafen sich erstmals nach gut 27 Jahren Schweizer und sowjetische Regierungsbeamte zu Verhandlungen auf Schweizer Boden. Durch das abschätzige und arrogante Verhalten in den Vorkriegs- und Kriegsjahren gegenüber der Sowjetunion hatte die Schweizer Delegation bei den Verhandlungen kaum Spielraum, die Leben der „russischen“ EKG in der Schweiz zu schützen. Mit der Repatriierung der „Russen“ erlitt die oft gepriesene humanitäre Tradition der Schweiz ein weiteres Mal einen erheblichen Schaden. Nachdem der letzte Repatriierungszug St. Margrethen verlassen hatte, verlor sich die Erinnerung an den Aufenthalt der rund 10'000 entwichenen „russischen“ Kriegsgefangenen in der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges immer mehr. Differenzierte Untersuchungen zu den Erinnerungsprozessen vor Ort, wie in Andelfingen oder Le Chaluet, fehlen bis heute genau so wie solche beim IKRK oder auf politischer Ebene. Dies wären Aufgaben, die in weiterführenden Arbeiten aufgenommen werden müssten.
Advisors:Haumann, Heiko
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Osteuropäische und neuere Geschichte (Haumann)
UniBasel Contributors:Haumann, Heiko
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:38
Deposited On:06 Feb 2018 11:26

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