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”Man konnte nicht irgendwohin gehen, ohne dass es jemand gesehen hat.” Spurensuche und Erinnerungskonstruktionen: Die Lebensgeschichte des ‘Fremdplatzierten’ und ‘Nacktgängers' W.H.F.

Heiniger, Kevin. ”Man konnte nicht irgendwohin gehen, ohne dass es jemand gesehen hat.” Spurensuche und Erinnerungskonstruktionen: Die Lebensgeschichte des ‘Fremdplatzierten’ und ‘Nacktgängers' W.H.F. 2007, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Abstract

In dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, anhand von aufgezeichneten Oral-History-Gesprächen zum einen, zum anderen auf der Basis von Archivalien die Lebensgeschichte eines Mannes zu rekonstruieren, der seine Kindheit in Heimen verbracht hatte und später als mehrfach verurteilter Exhibitionist in verschiedenen Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten interniert war. Dabei werden Fragen des Verding- und Heimkinderwesens in der Schweiz, der Psychiatrie- und Medizingeschichte sowie des strafrechtlichen Umgangs mit Sexualdelikten angesprochen. Mit einem lebensweltlichen Konzept wird versucht, Individuum, kulturelle Praxis, System und Strukturen miteinander zu verknüpfen. Aus der Perspektive des Akteurs W. H. F. lassen sich systemisch-strukturelle Einflüsse und Mechanismen erschliessen. Darüber hinaus beinhaltet die Lebenswelt-Konzeption die Reflexion des eigenen Selbstverständnisses, die auf Grund der engen Bekanntschaft des Autors mit F. besondere Bedeutung hat. Die Auswertung der Oral-History-Quellen wird mit Theorien von Maurice Halbwachs über Aleida und Jan Assmann bis zu Harald Welzer unterlegt. Dabei zeigt sich, dass die erinnerte Lebensgeschichte dem Leben Sinn und dem Handeln Orientierung geben soll und dass je nach sozialem Rahmen und Erinnerungsvorgängen Lücken im Gedächtnis entstehen können. Berücksichtigt werden muss, dass ein kommunikativ vermitteltes Selbstzeugnis wie das Oral-History-Gespräch ein "gemeinsames Produkt von Erzähler und Zuhörer" ist, wie Welzer erkennt.Den Hauptteil der Studie bildet die Rekonstruktion der Lebensgeschichte des W. H. F. Nach einleitenden Vorbemerkungen zur Gesprächssituation bei den Interviews folgt ein Datenüberblick über F.s Leben. 1932 geboren, wird er seit Anfang 1935 in verschiedenen Heimen platziert. Nach der Schule ist er ab 1947 in verschiedenen Berufen tätig; mehrere Lehren werden abgebrochen. 1956 wird F. zum ersten Mal wegen Exhibitionismus vor Kindern zu (bedingter) Haft verurteilt. Nach weiteren Verhaftungen aus dem gleichen Grund erfolgt 1959 die Verwahrung auf unbestimmte Zeit, zunächst in einer nicht ärztlich geleiteten Anstalt, dann mit ärztlicher Betreuung. Seit 1961 darf Herr F. wieder arbeiten, wird aber weiter behandelt. Er verschuldet sich immer mehr, und als er 1963 erneut wegen Exhibitionismus verurteilt wird, weist ihn das Gericht in eine Pflegeanstalt ein. 1965 wiederholt sich dieser Vorgang. In der Zwischenzeit wird eine Vormundschaft über F. errichtet. Eine vorgeschlagene Kastration lehnt er – wie früher schon – kategorisch ab. Nach einer bedingten Entlassung 1968 gerät er in finanzielle Schwierigkeiten. Ab 1971 kommt es erneut mehrfach zu Verhaftungen, Verurteilungen, psychiatrischen Untersuchungen und Entlassungen. Nach 1975 sind keine Verurteilungen mehr belegt. Gemäss mündlicher Auskunft arbeitet F. während der folgenden Jahre an verschiedenen Stellen, schafft sich ein Refugium mit einer Holzhütte im Wald, das 1998 von Unbekannten angezündet wird, und lebt nun von einer Altersrente. Im Folgenden werden einzelne Aspekte der Lebensgeschichte genauer untersucht. F.s Erinnerungen an die frühe Kindheit kreisen intensiv um seine Versuche, nach der Heimeinweisung wieder Kontakt zur Mutter herzustellen. Beim ersten Heim, an das er sich genauer erinnern kann, ist ihm im Gedächtnis geblieben, dass er von einer Nonne mit den Worten empfangen wurde: "Du hast die Nummer vier“ (S. 26). Disziplinierung bestimmte sein Leben in den Heimen. Vor allem die körperlichen und seelischen Strafen wegen der Bettnässerei bis zum 17. Lebensjahr hebt er hervor. Kontrolle und Überwachung waren allgegenwärtig. Von wirklicher Freizeit weiss F. fast nichts zu erzählen. Offenbar hatte er wenig Kontakt zu anderen Kindern, träumte viel und liebte die Natur. Die Kontrolle bezog sich in Fragen der Hygiene auch auf den Körper, eine persönliche Fürsorge scheint aber nicht erfolgt zu sein. Sexuelle Aufklärung hat F. in den Heimen nicht erfahren. Gemäss eines späteren psychiatrischen Gutachtens soll F. schon damals besonderes Interesse daran gehabt haben, sich nackt zu beobachten und mit anderen Kindern nackt zu baden: "Luft, Sonne und Wasser" sollen "eine gewisse erotisierende Wirkung" auf seinen Körper gehabt haben (S. 35). Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität konnte im Kinderheim nicht stattfinden. Unbefriedigend waren auch die Schulerfahrungen. Seine Interessen fühlte er nicht ernst genommen, während seine Schwächen streng bestraft wurden. Die schlechten Zeugnisse verringerten die beruflichen Möglichkeiten, zumal F. über keinerlei Selbstvertrauen verfügte.Diese persönliche Sicht auf die Kindheit wird in den Zusammenhang des Forschungsstandes zum Verdingkinderwesen und zu den Fremdplatzierungen gestellt. F. war kein Verdingkind im engeren Sinn, da seine Fremdplatzierung in einem von Benediktinerinnen geführten Kinderheim stattfand. Allerdings wurden auch dort die Kinder für vielerlei Arbeiten in Haus und Garten und auf dem Feld hinzugezogen. F.s Wegnahme erfolgte vermutlich, weil seine Mutter mit den damals fünf Kindern überfordert war und dann auch unter Vormundschaft gestellt wurde. F. weiss bis heute offiziell nicht, warum er seiner Mutter entzogen wurde – dies ist eine von vielen Parallelen von F.s Lebensgeschichte mit derjenigen von anderen Verdingkindern und Fremdplatzierten. In einem Lausanner Nationalfonds-Projekt wurde festgestellt, "dass ein autoritärer Erziehungsstil [...] ein möglicher Grund sein kann für eine schlechtere Integration und eine geringere Selbstachtung der Kinder" (S. 40). Dies könnte teilweise auch bei F. geltend gemacht werden.Das nächste Kapitel setzt sich mit den "gescheiterten Lehrjahren" auseinander. Als F. nach der 6. Klasse die Schule verliess, war er weder auf die Arbeitswelt noch auf den Umgang mit Geld vorbereitet. Schon an seiner ersten Stelle entdeckte er, dass es ihm Freude bereitete, als ihm einmal ein sechsjähriger Junge interessiert beim Entkleiden zuschaute. Ansonsten sind seine Erinnerungen an jene Zeit eher diffus. Aufgrund des Verständnisses der Familie, bei der er zu jener Zeit wohnte und arbeitete, klang immerhin die Bettnässerei ab. Dass F. zu dieser Lebensphase nur wenige Einzelheiten zu berichten weiss, kann seine Erklärung u.a. in einer ungünstigen neuronalen Gehirnentwicklung finden, die auch für den weiteren Lebensweg entscheidend war. F.s Erwachsenenzeit war zunächst weiter gekennzeichnet von Stellenwechsel und Misserfolgserlebnissen. Da er immer wieder eine Aushilfsstelle fand, scheint er aber auch das verhältnismässig ungebundene Leben genossen zu haben. Ausführlich stellt er im Interview dar, wie er von seinem Zimmergenossen im Wohnheim bestohlen wurde und dabei seinen ersten Polizeikontakt hatte. Seine Anzeige wurde gegen ihn gekehrt: Man bezichtigte ihn, auf diese Weise an das Geld des anderen herankommen zu wollen. Durch Druckausübung – F. wurde stundenlang in einer Zelle eingesperrt – zwang die Polizei ihn, die Klage zurückzunehmen und "zuzugeben", das Geld verloren zu haben. F. fühlte sich in dieser Situation allein gelassen, reagierte hilflos, was ihn bis heute bedrückt – und was sein Bild von der Polizei geprägt hat. Wegen der Freundschaft mit einem anderen jungen Mann, welche die Heimleitung als sexuell interpretierte – Herr F. bestreitet dies –, wurde ihm sein Zimmer gekündigt. Bald darauf wurde er wegen Exhibitionismus vor Kindern angezeigt – er hatte sich angewöhnt, nackt zu baden –, bedingt verurteilt und unter Schutzaufsicht gestellt. Im Interview zeigt sich, dass es F. noch immer schwer fällt, darüber zu sprechen. Aus der Schutzaufsichtsakte geht hervor, dass er auch homosexuelle Kontakte hatte, die jedoch nie zu einer längerfristigen Bindung führten. Einerseits wurde sein unsteter Lebenswandel, sein Vagabundieren und eine gewisse Verwahrlosung festgestellt, andererseits aber auch eine zeichnerische Begabung, die allerdings – ebenso wie verschiedene Erfindungen, die F. machte – nicht in eine berufliche Praxis umgesetzt werden konnten. Trotz präziser Überwachung durch die Schutzaufsicht und Unterstützung bei der Stellensuche konnte nicht verhindert werden, dass F. weiterhin immer wieder nach kurzer Zeit seine Stelle wechselte, in (innere) Krisen geriet und dann auch wieder seine sexuelle Neigung offenbarte. Der Schutzaufsichtsbeamte wurde nicht zu einer Vertrauensperson, stattdessen geriet F. wegen seiner "Nacktgängerei" (S. 62) immer stärker in das "Räderwerk der Justiz" (S. 61). Im Juli 1958 hatte er geradezu einen brieflichen Hilferuf an den Beamten gerichtet: "Ich wollte doch schon immer, dass man mit einer Medizin meine starke Triebhaftigkeit dämmen könnte. Manchmal stecke ich in grosser Gefahr deswegen – und heute habe ich Angst davor" (S. 62). Geschehen ist daraufhin nichts. Erst nach der nächsten Verhaftung kam es zu therapeutischen Massnahmen, die indes den Kreislauf nicht durchbrechen konnten.Vorübergehend war F. mit einem jungen Mann befreundet. Erst als dieser tödlich verunglückt war (F. befand sich zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis), erfuhr er zufällig, dass dieser auch Exhibitionist gewesen war. "Die Tragik dieser Freundschaft liegt darin begründet, dass sich die zwei jungen Männer aus Scham voreinander ihre Geheimnisse nicht anvertrauen konnten. Vielleicht wäre es für beide leichter gewesen, ihr Schicksal zu ertragen, wenn sie es miteinander hätten teilen können [...]" (S. 66). In seinen Erzählungen bringt F. die Zeiten seiner Haft und seiner Anstaltsverwahrungen immer wieder durcheinander. Die ärztliche Behandlung verlief anscheinend erfolgsversprechend, der Wegzug einer ärztlichen Vertrauensperson wirkte sich dann allerdings negativ aus. Die fortbestehende dichte Kontrolle durch Schutzaufsicht und Psychiatrie führte bei F. dazu, dass er sich den Normen anzupassen suchte: Er näherte sich einer Kollegin in einem Schreibmaschinenkurs an und begleitete sie nach Hause. Wie wenig er jedoch mit den Realitäten fertig wurde, wird an seinen wachsenden Schulden deutlich. Immer mehr geriet er unter Druck. Der behandelnde Psychiater kam zum Schluss, der Patient sei "für eine gründliche psychotherapeutische Behandlung zu wenig intelligent" (S. 72), setzte sie aber trotzdem fort. Dass hier kein Vertrauensverhältnis mehr zustande kam, versteht sich von selbst. Stattdessen wurde F. nach weiteren Verhaftungen schliesslich unter Vormundschaft gestellt und eine Kastration ins Auge gefasst, die er allerdings standhaft verweigerte. Gegen alle Eingriffe der Behörden versuchte er einen Rest Autonomie zu bewahren. Anhand kriminologischer und medizinischer Literatur wird dargestellt, dass die Ansicht des Vormunds, F.s Exhibitionismus sei als "Verführung eines Kindes" zu werten, die diesem "schwer schaden kann", nicht zutreffe. Erst die Reaktion der Umwelt und insbesondere der Eltern könne bei Kindern zu einer "sekundären Traumatisierung" führen (S. 84). Die Neigung zum Exhibitionismus sei angemessen nicht durch Kastration, sondern durch Psychotherapie zu behandeln. Diese Erkenntnis hatte sich, wie auch andere Studien belegen, zur betreffenden Zeit bei schweizerischen Psychiatern noch nicht allgemein durchgesetzt. F.s Weigerung hatte immerhin Erfolg, und schliesslich wurde auch die Vormundschaft wieder aufgehoben. Neuerliche Verfehlungen ahndeten die Gerichte im Zuge der Liberalisierung des Sexualstrafrechts milder als zuvor. Seit 1975 ist F. juristisch nicht mehr auffällig geworden, und auch seine Resozialisierung verlief in der Folgezeit erfolgreich.Im Anschluss an Michel Foucault kann in den Disziplinierungen, denen F. in seiner Kindheit und Jugend ausgesetzt war, der Schlüssel zum Verständnis seiner Lebensgeschichte gesehen werden. An seiner "Fallrekonstruktion" konnte deutlich gemacht werden, wie systemische Mechanismen das Leben eines Menschen "kolonialisieren". Die Lebensgeschichte lässt deshalb Rückschlüsse auf die Einstellung zu Erziehung und Sexualität seit den 1930er Jahren zu, ebenso auf den Stand des Sexualstrafrechts und der Psychiatrie in der Schweiz. Die "Macht der Psychiatrie" erfuhr F. als "existentielle Bedrohung": Unter der Behauptung, ihn heilen zu wollen, versuchte sie sich "Zugriff auf seinen Körper zu verschaffen". Seine "Anomalien", seine "fehlgeleitete Psyche", sollten "wieder der Norm" angeglichen werden. Die Psychiatrie arbeitete dabei eng mit der Justiz zusammen. Als F. seinen Rest an Autonomie geltend machte und die Kastration verweigerte, wurde er "für verhältnismässig lange Zeit in seiner Freiheit massiv" eingeschränkt (S. 94) und entmündigt. Es ist die "Geschichte eines Aussenseiters", den die Vertreter mächtiger gesellschaftlicher Systeme "zu überwachen, zu dressieren und zu korrigieren versuchten" (S. 95).
Advisors:Haumann, Heiko
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Osteuropäische und neuere Geschichte (Haumann)
UniBasel Contributors:Haumann, Heiko
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:37
Deposited On:06 Feb 2018 11:25

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