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Pharmaforschung im 20. Jahrhundert - Arbeit an der Grenze zwischen Hochschule und Industrie

Bürgi, Michael. Pharmaforschung im 20. Jahrhundert - Arbeit an der Grenze zwischen Hochschule und Industrie. 2010, Doctoral Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Official URL: https://edoc.unibas.ch/59992/

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Abstract

Die Zusammenarbeit der Pharmaindustrie mit den Hochschulen ist seit längerem Gegenstand kontroverser Diskussionen. Diesen liegt unter anderem die Befürchtung zugrunde, die Hochschulen stünden seit etwa drei Jahrzehnten zunehmend unter dem Einfluss ökonomischer Nützlichkeitserwägungen. Mit Blick auf die Geschichte der präklinischen Pharmaforschung, das heisst die chemische und biologische Entwicklung neuer Wirkstoffe, erweist sich die Rede von einer zunehmenden Kommerzialisierung der Hochschulen allerdings «als allzu zeitgebunden», wie der Soziologe Peter Weingart vor ein paar Jahren festhielt. Die vorliegende Studie nimmt die gegenwärtigen Auseinandersetzungen deshalb zum Anlass, um den historischen Grenzverlauf zwischen der Pharmaindustrie und den Hochschulen in den Bereichen Chemie und Biologie am Beispiel der Gesellschaft für Chemische Industrie Basel (Ciba) und des Pharmaunternehmens Hoffmann-La Roche für den Zeitraum zwischen 1880 und 1980 zu untersuchen.
Forschungsstand, methodisches Vorgehen und Aufbau der Arbeit
Die geschichtswissenschaftliche Forschung hat sich der Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Pharmaindustrie bereits mehrfach angenommen. Die bisher vorgelegten Monographien und Aufsätze verfolgen dabei mindestens drei unterschiedliche Erkenntnisinteressen: Erstens beschäftigen sich unternehmenshistorische Studien mit der Geschichte verschiedener Pharmaunternehmen und der Funktionsweise wissensbasierter Innovation. Dabei wird deutlich, dass die chemische Industrie schon im 19. Jahrhundert bildungspolitische Interessen verfolgte und sich für eine industrienahe Ausgestaltung der akademischen Lehre einsetzte. Im Bereich Forschung stellen Vertragsabschlüsse mit ausgewählten Universitätsprofessoren spätestens seit der Zwischenkriegszeit einen weit verbreiteten Kooperationsmodus dar. Schliesslich betonen verschiedene Studien den seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu beobachtenden Strukturwandel, als neue Biotechnologiefirmen entstanden, die bis heute eine Brückenfunktion einnehmen zwischen den traditionellen Pharmaunternehmen und der Hochschulforschung.
Zweitens interessiert sich die Wissenschaftsgeschichte für die Frage, wie neues Wissen entsteht. Ausgehend von der Prämisse, dass Wissenschaft keine von der übrigen Gesellschaft isolierte Aktivität darstellt, haben Historiker und Historikerinnen untersucht, welche Rolle die Pharmaindustrie im Rahmen der akademischen Wissensproduktion spielt. Im Zentrum des Interesses stehen dabei meist konkrete Kooperationspraktiken sowie jene Faktoren, die aus Sicht eines Akademikers oder einer Akademikerin für eine Kooperation mit der Pharmaindustrie sprachen: Forschungsgelder, technische Dienstleistungen und Forschungsmaterialien. Darüber hinaus zeigt die wissenschaftshistorische Forschung, dass die Kooperationsbereitschaft der akademischen community neben der materiellen auch eine symbolische Dimension hatte, indem jene Unternehmen, deren Forschungsabteilungen international anerkannte Forschungserfolge vorzuweisen hatten, als besonders attraktive Kooperationspartner galten.
Die unternehmenshistorisch oder wissenschaftshistorisch ausgerichteten Studien vermitteln zwar einen empirisch reichhaltigen Eindruck ausgewählter Kooperationskonstellationen, sie interessieren sich aber meist nur bedingt für historischen Wandel. Längerfristige Perspektiven finden sich demgegenüber in einer dritten Gruppe von Arbeiten, die sich in der einen oder anderen Form mit Niklas Luhmanns These von der fortschreitenden funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft auseinandersetzen. Laut Luhmann stellen – vereinfacht gesagt – Politik, Wirtschaft, Recht, Religion oder Wissenschaft gesellschaftliche Teilsysteme dar, die je spezifische Funktionen wahrnehmen und nach je eigenen Regeln funktionieren. Besonders kontrovers diskutiert wurde eine 1994 unter dem Titel The New Production of Knowledge veröffentlichte Alternative zur Differenzierungsthese Luhmanns. Diese besagt, dass wissenschaftliche Problemlösungen seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zunehmend im Kontext der Anwendung entstünden. Damit gehe die klare Trennung zwischen der Wissenschaft und ihrer gesellschaftlichen Umwelt tendenziell verloren. Von wissenschaftshistorischer Seite wurde diese Sichtweise insbesondere mit dem Hinweis kritisiert, die akademische Wissenschaft habe auch in früheren Jahrzehnten nicht frei und autonom von anderen gesellschaftlichen Teilsystemen agiert.
Hier will die vorliegende Studie einen Schritt weitergehen und danach fragen, inwiefern sich die Verbindungen zwischen Hochschule und Pharmaindustrie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert veränderten und welche Gründe dafür zu veranschlagen sind. Um auch die feinen Unterschiede sichtbar zu machen, konzentriert sie sich auf die kooperierenden Akteure, ihre Arbeitsweise, ihre Handlungsspielräume und ihr Selbstverständnis. Angesichts des sehr ausgedehnten Untersuchungszeitraumes bedarf diese Vorgehensweise allerdings einer einschränkenden Auswahl. Die Studie konzentriert sich deshalb auf die Entstehung und Funktionsweise von drei verschiedenen Kooperationsschauplätzen, deren Umrisse sich ausgehend vom aktuellen Forschungsstand bereits abschätzen lassen: Sie beginnt mit einer Analyse der im 19. Jahrhundert einsetzenden bildungspolitischen Aushandlungsprozesse zwischen der schweizerischen Pharmaindustrie und den Hochschulen. Anschliessend richtet sich der Fokus auf die forschungsorientierte Zusammenarbeit im Bereich Chemie, die sich seit der Zwischenkriegszeit etablierte. Schliesslich nimmt die Studie die Forschungskooperationen im Bereich der neueren molekularen Biowissenschaften in den Blick, die seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts an Bedeutung gewannen. Im Sinne einer klassisch mikrohistorischen Vorgehensweise werden die drei Schauplätze praxisnah untersucht und anschliessend miteinander verglichen, um nach den län­gerfristigen Verschiebungen im Verhältnis zwischen Hochschule und Pharmaindustrie zu fragen.
Empirische Ergebnisse
Das erste Kapitel widmet sich den Bildungsinterventionen, mit denen die chemische Industrie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Ausrichtung der universitären Chemiestudiengänge an verschiedenen schweizerischen Hochschulen in ihrem Sinne zu beeinflussen versuchte. Dabei fokussiert die Untersuchung über weite Strecken auf die Abteilung für Chemie der ETH Zürich, die im 20. Jahrhundert eine der wichtigsten Ausbildungsstätten für Industriechemiker war. Die industriellen Bildungsinterventionen hatten zum Ziel, die Kapazitäten der akademischen Ausbildung zu erweitern. Zugleich war die Industrie bestrebt, die inhaltliche Ausrichtung der Studiengänge ihren Bedürfnissen anzupassen. Wie jede wissenschaftliche Disziplin unterlag auch die Chemie einem steten Wandel und die Pharmaindustrie hatte ein genuines Interesse daran, diesen mitzugestalten. Umgekehrt suchten aber auch die Professoren die Allianz mit einzelnen Industrieunternehmen, um die Entwicklung ihrer Fachdisziplin voranzutreiben. Bildungspolitische Interessenskonvergenzen verliefen somit häufig quer zur institutionellen Grenze zwischen Hochschule und Industrie.
Das zweite Kapitel untersucht die Forschungskooperationen zwischen der Pharmaindustrie und den Hochschulen im Bereich Chemie. Hier entwickelte sich seit der Zwischenkriegszeit ein neuer Modus der industriellen Aneignung universitären Wissens, in dessen Zentrum die langfristig ausgerichtete Forschungskooperation mit ausgewählten Hochschulprofessoren stand. Ausgangspunkt der Analyse ist die zu Beginn der dreissiger Jahre initiierte Zusammenarbeit zwischen Ciba und dem Laboratorium für Organische Chemie der ETH. Die Kooperation mit einem Pharmaunternehmen hatte verschiedene Auswirkungen auf die akademische Forschung. Die Forschungsarbeiten am ETH-Laboratorium konzentrierten sich nun vermehrt auf die von der Ciba favorisierten Bereiche der Hormonforschung und später der Antibiotikaforschung. Gerade die Forschung über Penicillin und andere antibakterielle Stoffwechselprodukte führte zudem unverkennbar zu einer Industrialisierung des akademischen Forschungsprozesses. In forschungspraktischer Hinsicht war die Distanz zwischen dem Laboratorium für Organische Chemie und der Forschungsabteilung von Ciba im Laufe der Jahre somit kleiner geworden.
Der Blick auf die Arbeit im akademischen Forschungslabor macht ferner deutlich, dass in Hochschule und Industrie dieselben Moleküle zirkulierten. Der zweite Teil des Kapitels ist deshalb den von beiden Seiten gemeinsam erforschten Stoffen gewidmet. Diese eröffneten einen grenzüberschreitenden Handlungsraum, innerhalb dessen ein hohes Mass an Mobilität herrschte. Darin zirkulierten neben den organischen Molekülen auch die Chemiker selbst, was die Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Industrie zusätzlich beförderte. Im dritten Teil des Kapitels richtet sich der Fokus schliesslich erneut auf die ETH, wobei es diesmal aber nicht um die Kooperationspraktiken eines einzelnen Hochschulinstitutes geht, sondern um die wissenschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Dabei wird deutlich, dass sich auf wissenschaftspolitischer Ebene nach dem Zweiten Weltkrieg erste Bestrebungen bemerkbar machen, Hochschule und Industrie stärker voneinander abzugrenzen.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der forschungsorientierten Zusammenarbeit im Bereich verschiedener biomedizinischer Fachrichtungen, für die sich die Forschungsabteilungen von Ciba und Roche seit Mitte der sechziger Jahre vermehrt zu interessieren begannen. Weil viele Vertreter und Vertreterinnen der vergleichsweise jungen molekularen Biowissenschaften der Industrie anfänglich ablehnend gegenüberstanden, mussten die Pharmaunternehmen ihre eigenen Forschungsabteilungen näher an den Hochschulen positionieren, um auch für jene Wissenschaftler ein attraktiver Kooperationspartner zu sein, die ein ausgeprägt akademisches Selbstverständnis pflegten. Sie errichteten deshalb neue Forschungsinstitutionen, die den Hochschulen in organisatorischer und symbolischer Hinsicht sehr nahe standen. Das Kapitel schildert diese Entwicklung am Beispiel des 1967 gegründeten Roche Institute of Molecular Biology. Es folgt eine Darstellung der ersten, von einem Professor der Universität Zürich mitbegründeten Biotechnologiefirma der Schweiz und der öffentlichen und politischen Reaktionen auf diese neue Form der Kommerzialisierung universitären Wissens. Die Gegenüberstellung zeigt, dass beide Entwicklungen zusammengenommen – die Akademisierung der Industrieforschung einerseits und die inzwischen verbreitete Förderung des akademischen Unternehmertums andererseits – einen neuen Kooperationsmodus begründeten, der auf einer gezielt herbeigeführten institutionellen Entgrenzung von Hochschule und Industrie basiert.
Fazit
Im Schlusskapitel wird diskutiert, weshalb sich in der Molekularbiologie ein neuer Kooperationsmodus etablierte, der sich in Bezug auf seine institutionelle Ausprägung deutlich von den Forschungskooperationen im Bereich Chemie unterschied. Diese Entwicklung wird als Ausdruck einer zunehmenden Sensibilität für die Grenze zwischen Hochschule und Industrie interpretiert. Grenzziehungen zwischen akademischer und industrieller Forschung, zwischen «Grundlagenforschung» und «Zweckforschung», mithin also die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme Wissenschaft und Wirtschaft erlangten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert eine bisher ungekannte Orientierungsfunktion, die den Handlungsspielraum von Hochschulforschern nachhaltig veränderte.
Die Studie schliesst mit der Frage, wie es zu dieser Akzentuierung innergesellschaftlicher Grenzen kommen konnte. Dabei wird die These formuliert, dass die Wissenschaftsgeschichte selbst Anteil an dieser Entwicklung hatte: Seit den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts unterschied die wissenschaftshistorische Forschung zwischen «internen» und «externen» Faktoren wissenschaftlichen Wandels. Diese Unterscheidung habe, so schrieb Peter Weingart 1976, «in der Form von Legitimationsweisen eine eigene Realität gewonnen», die das soziale Handeln bestimmten. Mit den Science and Technology Studies hat sich mittlerweile ein ganzes Forschungsfeld entwickelt, dass die gegenwärtigen und historischen Grenzziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft auslotet, sie empirisch rekonstruiert und theoretisch dekonstruiert. Obschon die Unterscheidung zwischen «interner» und «externer» Wissenschaftsgeschichte damit längst einer kritischen Überprüfung unterzogen wurde, ist die florierende Wissenschaftsforschung selbst ein Indiz dafür, dass die Beobachtung der Grenze zwischen Hochschule und Industrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dringlicher erscheint. Etwas überspitzt formuliert untersucht die aktuelle Wissenschaftsgeschichte somit jene Geister, die sie einst rief und heute nicht mehr loswird. Dies würde bedeuten, dass die Methoden und Fragestellungen der wissenschaftshistorischen Forschung und die Handlungsweisen der Akteure, die zu beschreiben und zu verstehen sie beabsichtigt, in einem bisher noch kaum erforschten historischen Zusammenhang stehen.
Advisors:Wecker, Regina
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Frauen- und Geschlechtergeschichte (Wecker)
UniBasel Contributors:Wecker, Regina
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Doctoral Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:37
Deposited On:06 Feb 2018 11:23

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