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"Her hilf uns". Der Komet von 1618. Zeitgenössische Wahrnehmung und Deutungen anhand von Selbstzeugnissen aus dem Süden des deutschsprachigen Raumes

Bentley, Kirstin. "Her hilf uns". Der Komet von 1618. Zeitgenössische Wahrnehmung und Deutungen anhand von Selbstzeugnissen aus dem Süden des deutschsprachigen Raumes. 2006, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Official URL: https://edoc.unibas.ch/59940/

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Abstract

In der zweiten Hälfte des Jahres 1618 erschienen drei Kometen am Himmel über Europa. Die ersten beiden verschwanden relativ schnell wieder, der dritte blieb jedoch von Oktober bis in den Januar 1619 hinein am Himmel sichtbar und von blossem Auge erkennbar. Der Komet, denn die drei wurden von den meisten Menschen zu einem zusammengefasst, erfuhr grosses publizistisches Interesse in Form von Flugschriften und Flugblättern, der Astrologe und Astronom Johannes Kepler schrieb ein Traktat dazu. In dieser Arbeit wird jedoch versucht, aufgrund von Selbstzeugnissen der Frage nachzugehen, wie die breite Bevölkerung den Kometen wahrnahm und deutete, wie sie über ihn schrieb und ob sich die publizistische Sinnstiftung auf diese Wahrnehmungen und Deutungen auswirkte. Selbstzeugnisse eignen sich deshalb, weil anhand von ihnen durch die Art und Weise, wie etwas beschrieben wird, warum es beschrieben wird, und auch daraus, was für Ereignisse beschrieben werden, wichtige wahrnehmungs-, mentalitäts- und sozialgeschichtliche Schlüsse gezogen werden können. Denn obwohl durch Selbstzeugnisse eher ein mikrohistorischer Einblick gewonnen wird, kann gerade dieser Umstand wichtige Ergänzungen zu makrohistorischen Fragestellungen bieten.
Dieser Arbeit liegen sieben Selbstzeugnisse als Quellen zugrunde, deren Verfasser (es sind alles Männer) den Kometen entweder zeitgleich oder auch im Nachhinein beschrieben und kommentiert haben. Die Selbstzeugnisse stammen alle aus dem Süden des deutschsprachigen Raumes und wurden auch mit dem Ziel ausgewählt, eine möglichst breite Basis für eine Untersuchung zu geben. So stammen der Elsässer Kannengiesser Augustin Güntzer, der Schuhmacher Hans Heberle und der Färbermeister Hans Faigele eher aus einem Handwerkermilieu, während es sich bei Hans Im Thurn um einen Angehörigen der städtischen Oberschicht, bei Gallus Zembroth um einen Angehörigen der ländlichen Oberschicht handelt. Wolfgang Ammon und Bartholomäus Dietwar waren von Beruf beide evangelische Pfarrer. Fünf der sieben Selbstzeugnisse stammen von Verfassern reformierten Glaubens, wobei Güntzer Calvinist war, zwei von Katholiken. Unterstützend wurden noch drei Flugschriften und ein Flugblatt als Quellenmaterial hinzugezogen.
Die Untersuchung geht davon aus, dass Wahrnehmung und Deutung eines Ereignisses nicht von den jeweiligen Lebens-, Glaubens- und Vorstellungswelten zu trennen ist, und daher lassen Aussagen über Wahrnehmung und Deutung Rückschlüsse auf eben diese Lebens-, Glaubens- und Vorstellungswelten zu. Dabei wird einerseits versucht, die Vergangenheit sozusagen „aus der Perspektive des Eingeborenen“ (Clifford Geertz) zu verstehen, andererseits aus der mikrohistorischen Ebene eines individuellen Lebens Schlüsse zu ziehen, wie von der Gesellschaft und dem Einzelnen in der Gesellschaft einem kosmischen Phänomen eine kulturelle Bedeutung zugemessen wurde, wie diese Bedeutung wirkte und empfunden wurde.
Der Kometenglaube an sich hat seine Wurzeln in der Antike. Aristoteles schuf den bestimmenden Diskurs über Kometen, deren Beschaffenheit und Folgen, der bis in die Frühe Neuzeit die Grundlage war. Dabei vermischten sich astrologische und straftheologische Deutungen. In allen Selbstzeugnissen, gleichgültig ob etwa vom Patrizier Hans Im Thurn, dem protestantischen Pfarrer Bartholomäus Dietwar, dem calvinistischen Handwerker Augustin Güntzer oder dem Katholiken Faigele, wird der Komet von 1618 im Lichte des traditionellen, zeitgenössischen Prodigien- und Kometenglaubens wahrgenommen. Er wird als „Straffruden“ Gottes interpretiert, der durch den Kometen den Menschen ihrer sündigen Leben wegen mit Unglück droht. Um dies abzuwenden gilt es, Busse zu tun und umzukehren. Schon die Wortwahl, die zur Umschreibung des Kometen benutzt wurde, zeigt, dass man nicht an gute Folgen des Kometen glaubte. Grundsätzlich ist der Komet „erschröcklich“. Diese Wahrnehmung zieht sich dabei durch alle Schichten, dies ist sowohl an den Selbstzeugnissen zu sehen, als auch nicht zuletzt am prominenten Beispiel des Johannes Kepler, der über eine gute astronomische, astrologische und auch theologische Ausbildung verfügte, aber ganz klar den Kometen als von Gott geschicktes Prodigium auffasste.
Doch abgesehen davon sind die Selbstzeugnisverfasser zurückhaltend mit ihren Deutungen bei Erscheinen des Kometen. Das heisst, trotz Angeboten durch überlieferte Tradition – Pest, Teuerung, Dürre, Krieg, Umstürze, Hunger, Tod eines Fürsten – , aber auch durch aktuelle, auf den Kometen von 1618 selbst zugeschnittene Flugschriften und Flugblätter, geben die Selbstzeugnisverfasser, wenn sie zeitgleich mit Erscheinen des Kometen schreiben, keine konkrete Deutung ab. Die genauen Ausdeutungen werden in der Retrospektive hinzugefügt. Vermutlich hängt das damit zusammen, dass man Gott in seiner Drohbotschaft nicht vorgreifen und ihn auf etwas festlegen wollte. Denn dies hätte Gottes Willen vorgegriffen und seine Allmacht dadurch in Frage gestellt.
Im Nachhinein, aber spätestens ab ungefähr 1630 erfuhr der Komet von 1618 eine Deutung als Vorzeichen des Dreissigjährigen Krieges. Dies zeigt sich in den meisten Selbstzeugnissen, ausser bei Hans Faigele, der nicht mehr auf den Kometen zurückkommt, den er 1618 zeitgleich verzeichnet, und Hans Im Thurn, der den auch zeitgleich notierten Kometen zwar mit Kriegsgeschrei, nicht aber dann mit dem Dreissigjährigen Krieg in Verbindung bringt. Dies mag jedoch daran liegen, dass Faigeles Selbstzeugnis 1640, also vor Ende des Krieges, abbricht und Hans Im Thurn 1648 starb. Augustin Güntzer kommt jedoch bei seinem Eintrag zum Frieden von 1648 direkt auf den Kometen zurück, Hans Heberle trägt bei seinem Eintrag 1618 nach, die anderen erwähnen den Kometen erst im Nachhinein und dann direkt auf den Dreissigjährigen Krieg bezogen. Vermutlich überlagerte diese Deutung, war sie erst einmal in den Köpfen der Menschen, jede andere Deutung des Kometen von 1618, denn endzeitlich wurde der Komet von 1618 nicht gedeutet, jedenfalls von keinem der Selbstzeugnisverfasser, auch nicht von den protestantischen. Dies, obwohl eine solche Deutung in den Flugschriften gängig und auch in denen zum Kometen von 1618 vorhanden war. Benigna von Krusenstjerns These leuchtet hierbei ein, dass der Endzeitgedanke und damit endzeitlich geprägte Deutungen im Laufe des Dreissigjährigen Krieges abnahmen, da sie von der blutigen Realität des Kriegs eingeholt und quasi verschluckt wurden.
Gerade in dieser Ausdeutung des Kometen von 1618 manifestiert sich die Wirkung einer durch Flugschriften, Flugblättern und anderen Medien verbreiteten „Sinnstiftung“, die man für andere Belange so schwer nachweisen kann. Denn wie die Untersuchung zur Instrumentalisierung des Kometen gezeigt hat, gibt es Anhaltspunkte in den Flugschriften, dass eine Beeinflussung der Menschen wünschenswert war, genauso gibt es auch Anhaltspunkte in den Selbstzeugnissen, dass die Aufrufe zur Umkehr und Busse anhand von Gottes Warnung mit drohendem Unheil durchaus wahrgenommen und auch ernst genommen wurden. Doch inwiefern diese befolgt wurden und der einzelne Mensch sein Leben wirklich änderte, darüber kann in dieser Untersuchung kaum Auskunft gegeben werden. Auch dass die Obrigkeit etwa in Schaffhausen Kometenbusstage einrichtete, beweist nicht, dass die Menschen auch alle an diesen Kometenbusstagen in die Kirche gingen.
Bemerkenswert ist in diser Hinsicht auch die Tatsache, dass vor allem Protestanten ein Interesse daran hatten, dem Kometenglauben publizistisch Rechnung zu tragen. Denn während die straftheologische Deutung, der traditionelle Prodigienglaube, eine konfessions- als auch schichtenübergreifende Angelegenheit war, so waren die Produzenten von Flugschriften und Wunderberichtssammlungen eher protestantisch, was sogar den Zeitgenossen auffiel. Zum einen kann man dies im Zusammenhang mit der Herausbildung sozialdisziplinierender Massnahmen sehen, zum anderen liegt es möglicherweise auch an der protestantischen Endzeitkonzeption im Hinblick darauf, dass man sich in der Endzeit wähnte, fieberhaft nach Endzeitzeichen suchte und zur Bestätigung der Häufung ebensolcher Zeichen diese schriftlich medialisierte. Einschränkend muss jedoch dazu bemerkt werden, dass Forschungen zu Selbstzeugnissen etwa im katholischen Frankreich hinsichtlich dieser Thematik noch ausstehen und ein Vergleich daher kaum möglich ist.
Vor dem Hintergrund der „Krise des 17. Jahrhunderts“ mit der Klimaverschlechterung ab den 1560er Jahren, den Hungersnöten, Seuchen, sowie den sozialen, ökonomischen und politischen Turbulenzen erweitert sich die Bedeutung des Kometen von 1618 und überhaupt des Kometenglaubens der Menschen. Der Kometenglaube erfuhr durch die erschwerten Lebensbedingungen und der empfundenen Unsicherheit der Zeit als kulturelle Folge eine Steigerung. So reichten die Angebote zur Sinndeutung der Kirche nicht mehr aus, die als krisenhaft empfundene Zeit zu erklären, man wandte sich direkt an Gott. Denn obwohl die Kometen Vorboten des Unheils waren, geschickt durch Gott, der damit seine Unzufriedenheit mit den Menschen ihrer vielen Sünden wegen anzeigte und ihnen mit Strafe drohte, so brachten die Kometen doch ein Gefühl der Sicherheit, denn Gott hatte sich in ihnen offenbart und seine Absichten kundgetan. Die Folgen mochten wohl schlechte sein, doch wenigstens konnte man durch Busse und Umkehr etwas dagegen tun und hatte das Gefühl, Kontrolle über die Zukunft zu haben. Der Komet von 1618 stand so wie eine Art Orientierungspunkt oder Wegweiser am Himmel, ermahnte die Menschen drohend, zeigte ihnen aber, was kam und dass sie noch auf Abwenden der Strafe durch die Gnade Gottes hoffen konnten, wenn sie nur rechtzeitig umkehrten.
Durch den mikrohistorischen Zugang, den Blick ins Kleine der einzelnen Lebenswelten jenseits von Kometentraktaten und Teleskopen hat sich ein umfassendes Deutungs- und Wahrnehmungsbild des Kometen von 1618 ergeben im Spannungsfeld von Dreissigjährigem Krieg, krisenhafter Zeit, Frömmigkeit und Kometenglauben.
Advisors:von Greyerz, Kaspar
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Geschichte der frühen Neuzeit (von Greyerz)
UniBasel Contributors:Von Greyerz, Kaspar
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:36
Deposited On:06 Feb 2018 11:23

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