Zuber, Karin. “Am Herzen dieser Alpennatur”. Die Alpen in den Reiseberichten von Friederike Brun: Wahrnehmung – Konzepte – Funktionen. 2008, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.
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Official URL: https://edoc.unibas.ch/60790/
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Abstract
Von Lyon kommend, hält Anfang März 1791 eine Kutsche bei Fort l‘Ecluse auf den Höhen des französischen Juras. An diesem Punkt kann der Blick weit, weit in die Ferne und die Tiefe schweifen, über die ausgedehnte Ebene des Rohnetals, über die grosse Fläche des Genfersees mit seiner berühmten Stadt am südwestlichen Ende und über die alles einfassende, gewaltige Gebirgskette der Alpen. Die Frau, die der Kutsche entsteigt, reist zum ersten Mal in ihrem Leben in die Schweiz. Überwältigt vom sich bietenden Panorama schreibt sie (Prosaische Schriften Band I, Zürich 1799, S. 161) in enthusiastischem Ton:
„O geliebte Freundin! Wir sind, wir sind in der Schweiz! Ich habe durchgeblickt in den Tempel der heiligen Natur! Prächtiger kann keine Scene eröfnet werden, als dieser Durchgang aus Frankreich in Helvetien es ist. Unser Weg gieng plötzlich ein wenig bergab; wir kamen um einen Bergsaum herum, und sahen, wie dahingezaubert, zwey ungeheure Berge vor uns dastehn! In den Aether strebt ihr ehrwürdiges Haupt, in die Schwindel erregende Tiefe ist ihr Fuss versenkt! Gleich ähnlich an Höhe und Gestalt scheinen sie mir Ursöhne der Schöpfung, zu Gränzsäulen der Länder dahingestellt.“
Am Abend, in Genf angekommen und nach dem ersten Tag angesichts der Alpen, folgt als Resümee: „O wie weit übersteigt ihre erhabene Grösse meiner Einbildungskraft kühnste Träumereyen!“(ebd. S. 165).
Diese ersten beiden Sequenzen einer Reise durch die Schweiz, geben auf kleinstem Raum nicht nur einen Eindruck von den Themen, der Atmosphäre und des Grundtons der weiteren Beschreibung, sondern sind gleichzeitig auch eine Zusammenfassung wichtiger geistesgeschichtlicher Strömungen, die das 18. Jahrhundert mit den Alpen in Verbindung bringt. Es findet sich einerseits das ästhetische Konzept der erhabenen Natur; die Alpen, ein grosses, gewaltiges Theater, ein Naturschauspiel, das sich dem betrachtenden Auge darbietet und es durch schnelle Szenenwechsel zu unterhalten weiss. Andererseits zeugt besonders der Ton der Beschreibung von einem empfindsamen Subjekt, welches durch den Anblick der erhabenen Natur vor allem sein Herz in Rührung versetzen möchte. Schliesslich erahnt die heutige Leserin aus den beiden Stellen, dass am Ende des 18. Jahrhunderts die Alpen und mit ihnen die Schweiz nicht als irgendein beliebiges Gebirge in einem beliebigen Staat galten, sondern dass sich hinter diesen wenigen Zeilen ein Komplex an Projektionen, Wünschen und Vorstellungen verbergen muss, welcher mit der sozialen Realität der damaligen Schweiz nicht viel zu tun haben kann.
Friederike Brun geb. Münter (1765-1835), so der Namen der Reisenden, verbrachte ungefähr sieben Jahre ihres Lebens im Ausland. Geboren in der Nähe von Gotha, aufgewachsen in Kopenhagen (ihr Vater wird kurz nach ihrer Geburt zum Pastor der deutschen Gemeinde ernannt), ermöglichte ihr die Hochzeit mit dem wohlhabenden Kaufmann Johann Constantin Brun ein finanziell gesichertes Leben. Bekannt war sie ihrer Zeit vor allem als Lyrikerin und Verfasserin von Reisebeschreibungen, denn obwohl keine ihrer Schriften eine zweite Auflage erfuhr, wurde sie vom literarischen Publikum ihrer Zeit als empfindsame Schriftstellerin geschätzt und war von Kind an mit den meisten Geistesgrössen des deutschsprachigen Raumes bekannt. Über ihre Reisen in die Schweiz hat Friederike Brun zwei ausführliche Beschreibungen verfasst. Neben dem schon zitierten Text ihrer ersten Reise ist vor allem ihr Tagebuch einer Reise durch die östliche, südliche und italienische Schweiz (ausgearbeitet in den Jahren 1798 und 1799 in Kopenhagen) bemerkenswert. Der Text erschien im Jahr 1800; er beschreibt ihre zweite Schweizerreise von 1795 und verarbeitet gleichzeitig den Schock, welcher die militärische Eroberung der Schweiz durch Napoleon bei der Autorin auslöste.
Die beiden Reiseberichte stehen am Ende eines Jahrhunderts, in dessen Verlauf sich der kulturelle und gesellschaftliche Umgang Europas mit den Alpen grundlegend veränderte. Untersucht man die Beschreibungen aus diesem Blickwinkel, können sie als Zusammenfassung eben jener Veränderungen verstanden werden. Die neuen Ideen haben in ihnen Spuren hinterlassen und sich in verschiedenen Sedimentschichten abgelagert. Meine Arbeit ist der Versuch, diese Schichten freizulegen. Das erste Ziel ist deshalb, aufzuzeigen, weshalb die Alpenwelt im 18. Jahrhundert überhaupt zu einem Reiseziel wurde, zu einer paradigmatischen Landschaft, anhand derer sich verschiedene ästhetische und gesellschaftliche Konzepte entwickeln und tradieren liessen. Zweites Ziel ist es, herauszuarbeiten, wie Friederike Brun ganz persönlich mit der Ideallandschaft Alpen verfährt. Welche Funktionen schreibt sie den Alpen zu, welche stilistischen Techniken benutzt sie, um Berge, Täler, Menschen zu beschreiben und wie verhalten sich ihre Ansichten und Vorstellungen zu den theoretischen Konzepten der Zeit? Die Arbeit strebt eine enge Verzahnung von Friederike Bruns persönlicher Sicht auf das Lieblingsland ihrer Seele und der sie beeinflussenden ästhetischen und gesellschaftlichen Strömungen an. Um dies zu erreichen, betreibe ich eine intensive Textexegese, deren Ergebnisse jeweils in die entsprechenden historischen Kontexte eingebunden werden. Dabei nehme ich mich vor allem den drei vorherrschenden Themenkreisen Natur, Freundschaft und Politik bzw. Gesellschaft an, und frage danach, welche Rolle die Alpen in jedem der drei Bereiche spielt. Dabei stellt sich zum Beispiel heraus, dass für Friederike Brun meistens nicht die reale, messbare Wirklichkeit der Alpenwelt im Vordergrund steht. Seit ihrer Kindheit wird sie von den bekanntesten Dichtungen, welche die Alpen zum Gegenstand haben, begleitet. Klopstock, Gessner, Haller und Rousseau liessen schon lange vor ihren Reisen bestimmte Bilder und Sehnsüchte in ihr entstehen, welche sie nun „real“ erleben will. Denn wenn sie entzückt auf den Spuren der Nouvelle Héloise wandelt oder sich an gewissen Orten in einer gessnerschen Idyllenwelt wähnt, dann beeinflussen diese vorgeprägten Bilder entscheidend ihre Sicht auf die aktuelle Umwelt. Die gefühlte Idylle einer Alpenwiese dient dann auch dazu, einen Freundschaftsbund mit den beiden Schriftstellern Friedrich Matthisson und Karl Victor von Bonstetten zu schliessen, welchen sie in der Schweiz zum ersten Mal begegnet. Für Friederike Brun nehmen die Alpen also unter anderem die Funktion einer Freundschafts-Landschaft oder einer literarischen Landschaft ein, in welcher sie sich als empfindsames Subjekt inszenieren kann.
Friederike Bruns Texte trafen offensichtlich den Geschmack der literarisch interessierten Öffentlichkeit. Obwohl die Reisebeschreibungen aus heutiger Sicht häufig übertrieben pathetisch wirken, kann man deshalb davon ausgehen, dass sie die vorherrschenden Strömungen und Veränderungen der Zeit in modellhafter Art und Weise aufgreifen und verarbeiten. Das neue Bild der Alpen hat sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts vollständig durchgesetzt. Die Bilder der grossen, erhabenen Berge, der anmutigen Alpentäler und ihrer freien, aufrichtigen Bewohner, welche Friederike Brun bei ihrem Publikum abrufen kann, sind häufig schon zu einer völlig stereotypisierten Sichtweise verkommen. Ganz der literarischen Mode ihrer Zeit entsprechend, kann die Autorin sich deshalb vor allem auf die Empfindungen konzentrieren, welche die Alpenwelt bei ihr auslöst. Diese erstarrt dabei nach und nach zu einem Klischee, welches zum Ich-Erfahrungsraum des modernen Subjekts wird und den Grundstein für ein bis heute nicht abflachendes touristisches Interesse an den Alpen legt.
„O geliebte Freundin! Wir sind, wir sind in der Schweiz! Ich habe durchgeblickt in den Tempel der heiligen Natur! Prächtiger kann keine Scene eröfnet werden, als dieser Durchgang aus Frankreich in Helvetien es ist. Unser Weg gieng plötzlich ein wenig bergab; wir kamen um einen Bergsaum herum, und sahen, wie dahingezaubert, zwey ungeheure Berge vor uns dastehn! In den Aether strebt ihr ehrwürdiges Haupt, in die Schwindel erregende Tiefe ist ihr Fuss versenkt! Gleich ähnlich an Höhe und Gestalt scheinen sie mir Ursöhne der Schöpfung, zu Gränzsäulen der Länder dahingestellt.“
Am Abend, in Genf angekommen und nach dem ersten Tag angesichts der Alpen, folgt als Resümee: „O wie weit übersteigt ihre erhabene Grösse meiner Einbildungskraft kühnste Träumereyen!“(ebd. S. 165).
Diese ersten beiden Sequenzen einer Reise durch die Schweiz, geben auf kleinstem Raum nicht nur einen Eindruck von den Themen, der Atmosphäre und des Grundtons der weiteren Beschreibung, sondern sind gleichzeitig auch eine Zusammenfassung wichtiger geistesgeschichtlicher Strömungen, die das 18. Jahrhundert mit den Alpen in Verbindung bringt. Es findet sich einerseits das ästhetische Konzept der erhabenen Natur; die Alpen, ein grosses, gewaltiges Theater, ein Naturschauspiel, das sich dem betrachtenden Auge darbietet und es durch schnelle Szenenwechsel zu unterhalten weiss. Andererseits zeugt besonders der Ton der Beschreibung von einem empfindsamen Subjekt, welches durch den Anblick der erhabenen Natur vor allem sein Herz in Rührung versetzen möchte. Schliesslich erahnt die heutige Leserin aus den beiden Stellen, dass am Ende des 18. Jahrhunderts die Alpen und mit ihnen die Schweiz nicht als irgendein beliebiges Gebirge in einem beliebigen Staat galten, sondern dass sich hinter diesen wenigen Zeilen ein Komplex an Projektionen, Wünschen und Vorstellungen verbergen muss, welcher mit der sozialen Realität der damaligen Schweiz nicht viel zu tun haben kann.
Friederike Brun geb. Münter (1765-1835), so der Namen der Reisenden, verbrachte ungefähr sieben Jahre ihres Lebens im Ausland. Geboren in der Nähe von Gotha, aufgewachsen in Kopenhagen (ihr Vater wird kurz nach ihrer Geburt zum Pastor der deutschen Gemeinde ernannt), ermöglichte ihr die Hochzeit mit dem wohlhabenden Kaufmann Johann Constantin Brun ein finanziell gesichertes Leben. Bekannt war sie ihrer Zeit vor allem als Lyrikerin und Verfasserin von Reisebeschreibungen, denn obwohl keine ihrer Schriften eine zweite Auflage erfuhr, wurde sie vom literarischen Publikum ihrer Zeit als empfindsame Schriftstellerin geschätzt und war von Kind an mit den meisten Geistesgrössen des deutschsprachigen Raumes bekannt. Über ihre Reisen in die Schweiz hat Friederike Brun zwei ausführliche Beschreibungen verfasst. Neben dem schon zitierten Text ihrer ersten Reise ist vor allem ihr Tagebuch einer Reise durch die östliche, südliche und italienische Schweiz (ausgearbeitet in den Jahren 1798 und 1799 in Kopenhagen) bemerkenswert. Der Text erschien im Jahr 1800; er beschreibt ihre zweite Schweizerreise von 1795 und verarbeitet gleichzeitig den Schock, welcher die militärische Eroberung der Schweiz durch Napoleon bei der Autorin auslöste.
Die beiden Reiseberichte stehen am Ende eines Jahrhunderts, in dessen Verlauf sich der kulturelle und gesellschaftliche Umgang Europas mit den Alpen grundlegend veränderte. Untersucht man die Beschreibungen aus diesem Blickwinkel, können sie als Zusammenfassung eben jener Veränderungen verstanden werden. Die neuen Ideen haben in ihnen Spuren hinterlassen und sich in verschiedenen Sedimentschichten abgelagert. Meine Arbeit ist der Versuch, diese Schichten freizulegen. Das erste Ziel ist deshalb, aufzuzeigen, weshalb die Alpenwelt im 18. Jahrhundert überhaupt zu einem Reiseziel wurde, zu einer paradigmatischen Landschaft, anhand derer sich verschiedene ästhetische und gesellschaftliche Konzepte entwickeln und tradieren liessen. Zweites Ziel ist es, herauszuarbeiten, wie Friederike Brun ganz persönlich mit der Ideallandschaft Alpen verfährt. Welche Funktionen schreibt sie den Alpen zu, welche stilistischen Techniken benutzt sie, um Berge, Täler, Menschen zu beschreiben und wie verhalten sich ihre Ansichten und Vorstellungen zu den theoretischen Konzepten der Zeit? Die Arbeit strebt eine enge Verzahnung von Friederike Bruns persönlicher Sicht auf das Lieblingsland ihrer Seele und der sie beeinflussenden ästhetischen und gesellschaftlichen Strömungen an. Um dies zu erreichen, betreibe ich eine intensive Textexegese, deren Ergebnisse jeweils in die entsprechenden historischen Kontexte eingebunden werden. Dabei nehme ich mich vor allem den drei vorherrschenden Themenkreisen Natur, Freundschaft und Politik bzw. Gesellschaft an, und frage danach, welche Rolle die Alpen in jedem der drei Bereiche spielt. Dabei stellt sich zum Beispiel heraus, dass für Friederike Brun meistens nicht die reale, messbare Wirklichkeit der Alpenwelt im Vordergrund steht. Seit ihrer Kindheit wird sie von den bekanntesten Dichtungen, welche die Alpen zum Gegenstand haben, begleitet. Klopstock, Gessner, Haller und Rousseau liessen schon lange vor ihren Reisen bestimmte Bilder und Sehnsüchte in ihr entstehen, welche sie nun „real“ erleben will. Denn wenn sie entzückt auf den Spuren der Nouvelle Héloise wandelt oder sich an gewissen Orten in einer gessnerschen Idyllenwelt wähnt, dann beeinflussen diese vorgeprägten Bilder entscheidend ihre Sicht auf die aktuelle Umwelt. Die gefühlte Idylle einer Alpenwiese dient dann auch dazu, einen Freundschaftsbund mit den beiden Schriftstellern Friedrich Matthisson und Karl Victor von Bonstetten zu schliessen, welchen sie in der Schweiz zum ersten Mal begegnet. Für Friederike Brun nehmen die Alpen also unter anderem die Funktion einer Freundschafts-Landschaft oder einer literarischen Landschaft ein, in welcher sie sich als empfindsames Subjekt inszenieren kann.
Friederike Bruns Texte trafen offensichtlich den Geschmack der literarisch interessierten Öffentlichkeit. Obwohl die Reisebeschreibungen aus heutiger Sicht häufig übertrieben pathetisch wirken, kann man deshalb davon ausgehen, dass sie die vorherrschenden Strömungen und Veränderungen der Zeit in modellhafter Art und Weise aufgreifen und verarbeiten. Das neue Bild der Alpen hat sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts vollständig durchgesetzt. Die Bilder der grossen, erhabenen Berge, der anmutigen Alpentäler und ihrer freien, aufrichtigen Bewohner, welche Friederike Brun bei ihrem Publikum abrufen kann, sind häufig schon zu einer völlig stereotypisierten Sichtweise verkommen. Ganz der literarischen Mode ihrer Zeit entsprechend, kann die Autorin sich deshalb vor allem auf die Empfindungen konzentrieren, welche die Alpenwelt bei ihr auslöst. Diese erstarrt dabei nach und nach zu einem Klischee, welches zum Ich-Erfahrungsraum des modernen Subjekts wird und den Grundstein für ein bis heute nicht abflachendes touristisches Interesse an den Alpen legt.
Advisors: | Opitz-Belakhal, Claudia |
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Faculties and Departments: | 04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Geschichte der frühen Neuzeit (Opitz-Belakhal) |
UniBasel Contributors: | Opitz Belakhal, Claudia |
Item Type: | Thesis |
Thesis Subtype: | Master Thesis |
Thesis no: | UNSPECIFIED |
Thesis status: | Complete |
Last Modified: | 05 Apr 2018 17:40 |
Deposited On: | 06 Feb 2018 11:30 |
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