edoc

Als aus Basel «Tschernobâle» wurde. Die Bevölkerungsproteste in Folge der Chemiekatastrophe von Schweizerhalle am 1. November 1986

Stefanovic, Jelena. Als aus Basel «Tschernobâle» wurde. Die Bevölkerungsproteste in Folge der Chemiekatastrophe von Schweizerhalle am 1. November 1986. 2009, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

Full text not available from this repository.

Official URL: https://edoc.unibas.ch/60643/

Downloads: Statistics Overview

Abstract

Als in den frühen Morgenstunden des 1. Novembers 1986 die Lagerhalle 956 im Sandoz-Werk Schweizerhalle ausbrannte, starben tausende Fische und mit ihnen starb fast die gesamte Rheinflora am vergifteten Löschwasser, das aufgrund von fehlenden Auffangbecken in den Fluss gelangte. Der Rhein, Trinkwasserreservoir für 20 Mio. Menschen, färbte sich blutrot und die Dämpfe, die während der Löschaktion entwichen, drangen in die letzten Ritzen der Häuser und Wohnungen der Menschen aus der Region Basel. Tausende EinwohnerInnen wurden vom Gestank der Gaswolke aus dem Schlaf gerissen und durchlitten Stunden der Angst und Ungewissheit. Die Chemiekatastrophe führte zu einem Umdenken in der Umweltpolitik und bestätigte die Stadt Basel in ihrem schon vor dem 1. November in Angriff genommenem Weg zu einer grünen Politik. Bereits am Tag der Katastrophe kam es zu Protesten der Bevölkerung, die zum einen ihrer Angst, Trauer und Wut Ausdruck verlieh und zum anderen der Chemie endlich zu verstehen gab, dass sie nicht mehr mit diesem Risiko leben wollte. Der Protest manifestierte sich u.a. in Form von Demonstrationen, Organisationsgründungen, LeserInnenbriefen und einer nächtlichen Plakataktion. Obwohl Basel schon seit geraumer Zeit mit und von der Chemie gelebt hatte, sowie umweltpolitisch und betreffend chemischer Risiken sensibilisiert war, empfand man es als unerhört, dass eine solche Katastrophe, bei der «erschreckend plastisch jedermann direkt betroffen war» (Basellandschaftliche Zeitung, Nr. 257, 3.11.1986), sozusagen vor der Haustür geschah. Somit ist die Tatsache, dass der Protest in der «Chemiestadt» Basel stattfand, besonders brisant. Woraus bestand dieser Protest der Basler Bevölkerung genau? Was waren seine Inhalte und wie wurden die Menschen aktiv? Gab es auch Widersprüchliches in diesem Protest? In welchen sozialgeschichtlichen Kontext lässt er sich einordnen? Diese Fragen stehen in dieser Arbeit im Zentrum. Somit handelt es sich in erster Linie um eine Dokumentation der Protestaktionen unmittelbar nach der Katastrophe von Schweizerhalle, d.h. zwischen dem 1. November 1986 bis Jahresende, wobei auch Ereignisse des Jahres 1987 beleuchtet werden und auch auf Jahrestage der Katastrophe eingegangen wird. Die Fragen, wie sich der BürgerInnenprotest artikulierte und in welchem sozialgeschichtlichen Kontext er einzuordnen ist, sind dabei von zentraler Bedeutung. Neben der chronologischen Darstellung des Protests wird in der Arbeit eine bildanalytische Untersuchung der Plakataktion vom 7./8. November durchgeführt, eine Auswertung von LeserInnenbriefen aus der Basler Zeitung vorgenommen und die ereignisnahe Kontroverse über Basel und die Chemie in einigen deutsch-schweizerischen Zeitungen dargestellt.
(Im Text: Fotographie der Protestaktion, aus: Bachmann Bachmann, Guido; Burri, Peter; Maissen, Toya (Hg.): Das Ereignis. Chemiekatastrophe am Rhein. Basel 1986, S. 97. Foto: Claude Giger)
Aus den Schilderungen der Brandnacht selbst wird ersichtlich, dass zwar versucht wurde, schnell und richtig zu handeln, dass aber den Verantwortlichen dabei gravierende Fehler unterliefen. Der Brand wurde mit einer halbstündigen Verspätung gemeldet, es existierte keine vollständige Lagerliste, nach der abgeschätzt werden konnte, ob das abweichende Gas giftig war oder nicht. Die Informationskommunikation der Katastrophen-Einsatzleitungen funktionierte nicht einwandfrei, die Sirenen in Grossbasel waren zum Zeitpunkt des Brandes ausser Betrieb und aufgrund eines Missverständnisses wurde der Internationale Warn- und Alarmdienst «Rhein» nicht ausgelöst. Das Fischsterben und die Vergiftung des Rheins waren die unmittelbaren Folgen des Grossbrandes, die viele Menschen traurig stimmten. Der Rhein ist ein «Symbolfluss, der Jahrhunderte europäischer Geschichte mit sich führt» (Basler Volksblatt, Nr. 264, 14.11.1986). Vor allem ist und war er aber Identifikationsträger für die Basler Bevölkerung und somit ein Stück Heimat. Neben diesem Schockerlebnis mussten die BaslerInnen jedoch schon in der Brandnacht die Folgen des Grossbrandes am eigenen Leib spüren. So bestanden die gesundheitlichen Folgen für je nach Standpunkt mindestens die Hälfte der Bevölkerung der Region aus Kopfschmerzen, Übelkeit, Durchfall, Schnupfen, Augen- und Bronchienbeschwerden. Gemäss der Umfrage der Aktion Selbstschutz (ein parteipolitisch neutraler Verein, der in Folge von Schweizerhalle gegründet wurde) reichten die Beschwerden sogar bis zu Fieberanfällen, Panik und psychischer Angst. Anders als die offiziellen medizinischen Untersuchungen fand die Aktion Selbstschutz auch heraus, dass die Beschwerden gar bis zu drei Wochen oder länger angedauert hatten. Es erstaunt nicht weiter, dass eine solch sicht- und spürbare Katastrophe auch zu Folgen für die Politik allgemein, die Umweltpolitik im Speziellen und die chemische Industrie führte. International galt es, das bis anhin gute Ansehen der Schweiz wiederherzustellen. Auf nationaler Ebene wurde das schon vor der Chemiekatastrophe bestehende Umweltschutzgesetz durch die Störfallverordnung präzisiert. Für Basel-Stadt und Baselland zeigten sich die Folgen in Form von Massnahmen wie z.B., der Kontrollstelle für Chemiesicherheit und der Umweltschutzdirektion. Die chemische Industrie musste fortan die technischen Innovationen im Umweltbereich intensivieren und griff zu Massnahmen wie z.B. der Eliminierung von gefährlichen Substanzen in der Produktion oder den Bau von Löschwasserbecken. Eine weitere unmittelbare Folge der Chemiekatastrophe war der neue Studiengang Mensch-Gesellschaft-Umwelt an der Universität Basel.Aus der Darstellung der Geschichte der «Chemiestadt Basel» wird ersichtlich, dass die Chemie, die sich bereits seit dem 17./18. Jahrhundert in Basel zu entwickeln begann, auch stets von Belastungen für die Umwelt und vor allem für Menschen begleitet wurde. Bereits im 19. Jahrhundert wurden Beschwerden über die stinkenden Gase laut. Bis ins 20. Jahrhundert zogen sich diese Beschwerden hin, nun aber wurde je länger je mehr die Chemie von den Behörden «gedeckt». Sie schenkten der Chemie mehr Vertrauen als der Bevölkerung, schliesslich drohte die Chemie indirekt, den Standort Basel aufzugeben, wenn die Stadt ihnen zu viele Vorschriften machte. Diese Tendenz war auch bei der Chemiekatastrophe von 1986 zu spüren. Wenn man die Bevölkerungsproteste im Kontext der BürgerInnenprotestbewegung in der Schweiz seit dem 2. Weltkrieg betrachtet, liegt die Vermutung nahe, dass sich durch die Proteste Basels Bevölkerung im Jahre 1986 kurz von ihrer Chemie emanzipiert hatte. Die Proteste haben insbesondere die neuen sozialen Bewegungen Umweltbewegung und Anti-AKW-Bewegung aufgerüttelt und ihnen neuen Auftrieb gegeben, sowie vermutlich vom Aktivierungspotential der Jugendbewegung der 80er Jahre profitiert. In Anbetracht dieser Folgen der Chemiekatastrophe kann berechtigterweise von einem Umdenken in der Umweltpolitik gesprochen werden. Die Tatsache, dass die Bevölkerung Basels so heftig auf die Chemiekatastrophe reagierte war dafür sicherlich förderlich. Schon am Tage der Katastrophe regte sich der erste Protest. Es folgten Kundgebungen, Demonstrationen, Podiumsdiskussionen, Menschenketten und Organisationsgründungen. Dabei beteiligten sich Personen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten und Altersklassen. Ein grosser Teil wurde sogar von SchülerInnen getragen. Mit der Aktion Selbstschutz hatte sich eine Organisation gegründet, die für viele damals genau das beinhaltete, wonach sie nach einem solchen Schockerlebnis suchten. Die Forderungen waren ganz klar: Abbau des Gefahrenpotentials in der chemischen Industrie, somit mehr Sicherheit in der Produktion, behördliche Kontrollen, eine offene Informationspolitik, Umstellung der chemischen Produktion auf umweltverträgliche Produkte, eine unabhängige Untersuchungskommission und Sensibilisierung für Umweltthemen auch in den Bildungsanstalten. Man war nicht länger bereit für den Wohlstand einen solch hohen Preis, beinahe das eigene Leben, zu bezahlen. Mit der Plakataktion vom 8. November wurden auch die Kunstschaffenden aktiv. Der rote Rhein und die toten Fische hatten sie inspiriert. So dominieren diese beiden Motive, die Farbe rot und die Fische, in  der Plakatreihe. Totenköpfe säumen den Rhein, der mit toten Fischen gefüllt ist. Mütter halten schützend ihre Hände vor ihre Kinder. Zukunft wird grau gezeichnet, ohne Gasmaske scheint sie gar nicht möglich. Mit ihren Mitteln drückten die KünstlerInnen so Protest, Trauer und Zukunftsangst aus. Die Plakate sind ein eindrückliches Zeugnis vom damals herrschenden Gegensatz, der einerseits aus Behörden bestand, die immer noch auf die Eigenverantwortung der Chemie schwörten und darum auch die Plakate durch die Polizei sofort wieder abhängen liessen, und den Menschen andererseits, die nicht einsehen konnten, dass man nach dieser Katastrophe einfach wieder zum Alltag zurückkehren konnte. Auch noch ein Jahr nach der Katastrophe fanden Kundgebungen statt, es wurden 1.-November-Büchlein verteilt und es schien, als hätte man Schweizerhalle noch nicht ganz vergessen. Aus LeserInnenbriefen wird ersichtlich, dass diese Katastrophe die Gemüter bewegt hatte. Einerseits solidarisierten sich die Schreibenden mit den Protestierenden und prangerten die «Machenschaften» der Chemie und der Behörden an. Andererseits kamen aber auch diejenigen zu Wort, die sich von den Protesten, den «Schmierereien» an den Wänden und den ihrer Meinung nach heuchlerischen Beschuldigungen an die Chemie belästigt fühlten. Doch auch die öffentliche Meinung war von Kontroversen geprägt. Während einerseits den Medien unterstellt wurde, Ängste geschürt und Panik- und Katastrophenstimmung gefördert zu haben, gingen für einige die Medien zu wenig weit, indem sie die Katastrophe verharmlost und sich somit den «Chemieherren» unterwürfig gezeigt hätten.Betrachtet man die Chemiekatastrophe von Schweizerhalle aus der Perspektive der Ausführungen von Ulrich Beck zur Risikogesellschaft, fällt auf, dass sich die Merkmale der Risikogesellschaft auf Schweizerhalle übertragen lassen. Durch die ungenügende Informationspolitik der Sandoz, aber auch durch die allgemeine Tatsache, dass beim Grossbrand Fachleute, wie ChemikerInnen, ÄrztInnen, und Feuerwehrleute das Sagen hatten, herrschte für die Bevölkerung Basels eine «Wissensabhängigkeit». Wer es wagte, ohne chemisches Fachwissen über die Risiken und Gefahren zu urteilen, wurde als hysterisch bezeichnet. Die Medien, die über die Gefahr eines Phosgenunfalls berichteten, der tatsächlich möglich gewesen wäre, da ein Phosgenlager unmittelbar neben der Brandhalle lag, wurden als Panikmacher abgestempelt. Und schliesslich wurde bei der Messung der Schadstoffe in der Luft nur den Messgeräten der ChemikerInnen geglaubt, anstatt den Symptomen der gesundheitlich auf den Grossbrand reagierenden Bevölkerung. So erstaunt es auch nicht, dass die Behörden auf den Vorwurf hin, dass zu wenig getan wurde, antworteten, dass die Bevölkerung bloss schlecht informiert darüber war. Also trifft auch hier Becks Annahme, dass die Risikogesellschaft auch eine Wissenschafts-, Medien- und Informationsgesellschaft ist, zu und dass die Proteste und Kritik von der Wissenschaft und im Falle von Schweizerhalle auch von den Behörden als «reines Informationsproblem» verstanden wurden.In der Nacht des 1. Novembers 1986 verbrannten nicht nur 1’351 Tonnen Chemikalien im Sandoz-Werk in Schweizerhalle und führten mit dem in den Rhein abfliessenden Löschwasser zu einer ökologische Katastrophe, bei der tausende Fische verendeten. Der Brand und der daraus entstandene Rauch, der sich über die Region legte, löste nicht nur den Katastrophenalarm aus und führte zur «Nacht mit den geschlossenen Fenstern». Mit der Chemiekatastrophe löste sich vor allem auch die Illusion von absoluter Sicherheit für die Mehrheit der Menschen in der Region Basel in Luft auf. Sie standen vor der Erkenntnis, dass sich solche Katastrophen nicht nur weit weg, in östlichen oder südlichen Gefilden, ereignen können, sondern tatsächlich auch in Basel und vor ihrer Haustür.
Abbildungen Zwei Plakate von der Plakataktion vom 7./8. November 1986, aus: Sofort alle Fenster und Türen schliessen! Ethnographische Photographien von Plakaten und Wandparolen bezüglich des Sandoz-Chemieunfalls in Schweizerhalle vom 1. November 1986. Basel 1987.
Advisors:Wecker, Regina
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Frauen- und Geschlechtergeschichte (Wecker)
UniBasel Contributors:Wecker, Regina
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:39
Deposited On:06 Feb 2018 11:29

Repository Staff Only: item control page