Scherrer, Rafael. »J'ai toujours cherché à travailler dans l'intérêt tant de mon pays d'origine que de mon pays d'adoption« - Netzwerke von SchweizerInnen zur französischen Résistance am Beispiel des »Bureau Ajoie« des schweizerischen Nachrichtendienstes. 2011, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.
Full text not available from this repository.
Official URL: https://edoc.unibas.ch/60564/
Downloads: Statistics Overview
Abstract
Eine im Dezember 1999 eingereichte parlamentarische Initiative zur «Rehabilitierung der Flüchtlingsretter und der Kämpfer gegen Nationalsozialismus und Faschismus» führte zur Einsetzung einer «eidgenössischen Rehabilitierungskommission», welche bis Ende 2008 die Aufhebung von insgesamt 137 Urteilen gegen Personen ermöglichte, die während der Zeit des Nationalsozialismus Flüchtlingen den Übertritt über die Landesgrenzen in die Schweiz ermöglicht hatten. Ausserdem bewirkte die Initiative die im März 2009 vom Parlament verabschiedete Rehabilitierung von verurteilten Schweizer SpanienkämpferInnen. Hingegen riet die zuständige parlamentarische Kommission den eidgenössischen Räten, auf die Rehabilitierung von SchweizerInnen zu verzichten, welche die französische Résistance unterstützt hatten. Begründet wurde dieser Entscheid damit, die Geschichtswissenschaft habe bisher nicht ausreichend klären können, aus welchen Beweggründen sich SchweizerInnen für die Résistance engagiert hätten. Damit wird einerseits ersichtlich, von welcher Aktualität die Aufarbeitung der Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg nach wie vor sowohl auf politischer als auch auf wissenschaftlicher Ebene ist. Andererseits werden Lücken in der Forschung erkennbar: Tatsächlich wurde die Beteiligung von SchweizerInnen an Aktivitäten des französischen Widerstands bisher kaum systematisch erforscht. In einer Untersuchung aus dem Jahr 2000 wurden zwar die Militärgerichtsdossiers jener Personen ausgewertet, die als Teil der «Forces Françaises de l’Intérieur» (FFI) ab Sommer 1944 auf Seiten des französischen Widerstands an Kampfhandlungen teilgenommen und sich deshalb des «Militärdiensts in einer fremden Armee» schuldig gemacht haben. Diese schätzungsweise rund 500 Schweizer Mitglieder der Résistance-Streitkräfte dürften aber insgesamt nur eine unbedeutende Rolle in der Geschichte des französischen Widerstands gespielt haben. Neben der aktiven Teilnahme an Kampfhandlungen dürften andere Formen der Unterstützung für die Résistance von grösserem Wert gewesen sein, etwa die Belieferung mit Ausrüstungsmaterial, Nachrichten- und Informationstätigkeiten sowie Fluchthilfe. Es sind dies Formen der Unterstützung, welche die spezifische Situation der Schweiz als neutrale «Insel» inmitten der kriegführenden Mächte voraussetzten und die gleichzeitig von den AktivistInnen ein ständiges Hin und Her über die Landesgrenzen und damit eine Verletzung eben jener Neutralität erforderten.Für die Erforschung der Unterstützung der Résistance von der Schweiz aus über die Landesgrenzen hinweg ergibt sich das Problem, dass die daran beteiligten Personen(kreise) im Verborgenen handeln mussten, sei es, weil sie gegen die schweizerische Neutralitätspolitik verstiessen und rechtliche Konsequenzen zu befürchten hatten, sei es, weil im Falle einer Entdeckung durch die deutsche Besatzungsmacht jenseits der Grenze Verfolgung, Haft und Ermordung drohten. Entsprechend waren die jeweiligen Personen darauf bedacht, möglichst keine Spuren ihrer Tätigkeit zu hinterlassen, und so ist es für die Geschichtswissenschaft heute umso schwieriger, aussagekräftige Quellen zu finden. Für diese Lizentiatsarbeit konnte deshalb nicht auf ein von Beginn an festlegbares Korpus von Quellen zurückgegriffen werden, vielmehr stellt sie selber eine Spurensuche nach brauchbaren Quellenbeständen dar.Dazu musste zunächst auf die Geschichte der Résistance, ihrer Organisationsformen und Praktiken eingegangen werden, um ersehen zu können, welche Rolle die Schweiz für den Widerstand in Frankreich spielte und wo er auf Unterstützung von SchweizerInnen angewiesen war. Von der Vorstellung einer monolithischen Widerstandsbewegung mit klaren Zielsetzungen gilt es sich dabei zu verabschieden. Tatsächlich wurde die französische Résistance von unterschiedlichen AkteurInnen aus den unterschiedlichsten politischen Milieus getragen. «Widerstand» umfasste zudem verschiedenste Praktiken: Fluchthilfe, Herstellen und Verteilen von Propagandamaterial, Spionage und Weitergabe von Geheimdienstinformationen, Streiks, Sabotage ziviler und militärischer Einrichtungen, Sammeln von Waffen, Repression gegen Kollaborateure, Widersetzen gegen Zwangsarbeit und schliesslich bewaffneten Kampf gegen die Besatzungsmacht, um die naheliegendsten zu nennen. Insgesamt zeichnete sich die Entwicklung der Résistance, ausgehend von den vereinzelten, unabhängig voneinander sich formierenden Anfängen nach der Besetzung 1940 durch die schrittweise Vernetzung verschiedener Gruppierungen und die Zentralisierung ihrer Führungsorgane aus, ebenso durch den Übergang von zunächst klandestiner Propagandatätigkeit zum offenen Kampf als Teil der alliierten Streitkräfte nach der Invasion von 1944. Vereinfachend lassen sich die Gruppierungen der Résistance in drei Organisationsformen einteilen: Die Mouvements waren ihr politischer Arm und zunächst vor allem in der Herstellung und Verbreitung von klandestiner Presse tätig, um dann später zum bewaffneten Kampf überzugehen. Bei den Réseaux hingegen standen nicht die politische Arbeit, sondern das Sammeln von Informationen über die Besatzungsmacht sowie Sabotageakte im Vordergrund. Dabei kooperierten sie teilweise über Landesgrenzen hinweg eng mit Geheimdiensten der alliierten Mächte. Drittens sind die Filières zu nennen, die ausschliesslich in der Fluchthilfe, ebenso über Landesgrenzen hinweg, tätig waren. Natürlich gab es zwischen diesen drei Organisationsformen bezüglich ihrer Aktivitäten häufig Überschneidungen. Hinsichtlich der Réseaux wird deutlich, dass sich die Résistance nicht auf Frankreich und französische Akteure beschränken lässt, sondern dass verschiedene alliierte Mächte im Austausch mit den Réseaux standen oder ihre eigenen Réseaux unterhielten und somit Teil der Résistance waren. Nebst britischen und amerikanischen waren sowjetische, polnische, tschechische oder belgische Réseaux auf französischem Boden aktiv. Die Schweiz war für verschiedene Réseaux von zentraler Bedeutung, nämlich um den Informationsaustausch mit den alliierten Mächten herzustellen und als Rückzugsort, falls Verfolgung durch die deutschen Besatzer drohte. Tatsächlich lassen sich in der jüngeren französischen Forschungsliteratur einige Hinweise auf Réseaux finden, die im grenznahen Raum zur Schweiz und über die Grenze hinweg tätig waren. Der französische Historiker Robert Belot weist insbesondere auf eine Form der willentlichen und direkten Hilfe hin, welche die Schweiz der Résistance erbrachte: die Kooperation des Schweizer Nachrichtendienstes mit Réseaux des Widerstands.Der schweizerische Nachrichtendienst befand sich bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in einer prekären Situation: So verfügte er kaum über personelle Netzwerke ins Ausland, um an Informationen zu gelangen, daneben reichten die finanziellen Mittel nicht aus, um einen Stab von AgentInnen bezahlen zu können. Deshalb waren die Aussenposten des Nachrichtendienstes entlang der Westgrenze der Schweiz darauf angewiesen, mit Netzwerken der Résistance zusammenzuarbeiten. Dies auf der Grundlage eines einfachen Tauschgeschäfts: Erleichterung der Grenzpassage für Informationen. Die AktivistInnen der Réseaux konnten so auf die Hilfe des Nachrichtendienstes zählen, um in die Schweiz zu gelangen und ihre Informationen an die hier ansässigen diplomatischen Vertretungen der alliierten Mächte weiterzuleiten. Im Gegenzug konnte der Nachrichtendienst von diesem Informationsaustausch profitieren, da er so mit militärisch relevanten Informationen für die Armeeführung beliefert wurde. Hinweise auf solche Kooperationen zwischen dem schweizerischen Nachrichtendienst und verschiedenen Réseaux finden sich in der französischen Forschungsliteratur. Beide Seiten benötigten dazu ein Netzwerk von PasseurInnen diesseits und jenseits der Grenze, meist ortsansässige Leute, die mit der Grenze und ihren Schlupflöchern vertraut waren und entweder selber Informationen schmuggelten oder Personen die Passage ermöglichten.Denys Surdez war von 1940 bis 1944 Leiter des Nachrichtendienst-Aussenpostens Ajoie, dessen Operationsgebiet in etwa die Grenzen des heutigen Kantons Jura zu Frankreich umfasste. Surdez veröffentlichte 1985 seine Memoiren, in welchen er sehr offen – und mit einer gewissen Verbitterung – über die Zusammenarbeit mit ausländischen Netzwerken und die daraus resultierenden Probleme spricht. Vergleichbare Zeitzeugenberichte eines Nachrichtendienstmitarbeiters existieren nicht, weshalb Surdez’ Memoiren, wenn auch erst nach einem Abstand von 40 Jahren entstanden, eine wertvolle Quelle für die Lizentiatsarbeit darstellen, anhand derer weitere, unmittelbar aus der fraglichen Epoche stammende Quellen gefunden werden konnten. Surdez problematisiert insbesondere die rechtliche Grauzone, in welcher er agieren musste: Zwar war er zur Informationsbeschaffung auf die Kooperation mit Netzwerken der Résistance angewiesen. Jedoch verstiess diese Praxis gegen die Neutralität, weshalb ihm von der Armeeführung signalisiert wurde, im Zweifelsfalle würde man jegliche Verantwortung von sich weisen. Daneben herrschten andauernd Spannungen mit anderen Behörden, etwa den Zolldiensten, wodurch die heimlichen Grenzübertritte gefährdet wurden. Ebenso sei es auf die Unvereinbarkeit mit der Neutralität und das knappe Budget des Nachrichtendiensts zurückzuführen, dass die für den schweizerischen Nachrichtendienst tätigen Résistance-AktivistInnen von der Schweiz keine Anerkennung und kaum finanzielle Entschädigungen erhielten. So hat Surdez «seinen» AgentInnen, von denen die Schweizer Armeeführung profitierte, die für verschiedene Réseaux tätig waren und dabei ihr Leben riskierten oder gar getötet wurden, niemals die ihnen zustehende Anerkennung zukommen lassen können, was ihn offenbar zeitlebens belastete.In Surdez’ Memoiren finden sich zahlreiche Hinweise auf verschiedene Widerstandsnetzwerke, daneben auch die kurze Erwähnung seines einstigen Mitarbeiter, James Quartier-la-Tente, der kurz vor Kriegsende aufgrund seiner Kollaboration mit ausländischen Netzwerken von der Schweizer Militärjustiz zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden sei. Dank dieses Hinweises konnte im Bundesarchiv das entsprechende Militärgerichtsdossier ausfindig gemacht werden, welches bisher nicht wissenschaftlich untersucht worden ist und sich für die Lizentiatsarbeit als äusserst ergiebig erwies. Das rund 10cm dicke Dossier entstand während des Zeitraums von der Verhaftung des besagten Nachrichtendienstmitarbeiters im Herbst 1944 über die Urteilsverkündung im April 1946 bis zur Korrespondenz über Begnadigungen im Jahr 1947. Es enthält die Verhörprotokolle von 17 Personen, ebenso eine Liste aller in den Verhören genannten Personen, die rund 200 Namen umfasst. Neben James Quartier-la-Tente wurden ein nach Frankreich emigrierter Schweizer jüdischen Glaubens namens Jacques Weil und dessen Schwester Madeleine verhaftet. Weil hatte bereits im Sommer 1940 in Westfrankreich erste Netzwerke des Widerstands aufgebaut. Ebenso verhaftet wurde die Nachrichtendienst-Mitarbeiterin Suzanne Allemann, deren Eltern und zwei Brüder als Passeure für verschiedene Réseaux sowie für den schweizerischen Nachrichtendienst arbeiteten. Die vier inhaftierten Personen wurden unter anderem angeklagt aufgrund von «Verletzung militärischer Geheimnisse», «Nachrichtendienst gegen fremde Staaten» oder «Feindseligkeiten gegen einen Kriegführenden oder fremde Truppen».Aus den Verhörprotokollen lässt sich der Straftatbestand – zwar nicht lückenlos – rekonstruieren: Jacques Weil sah sich 1943 gezwungen, in sein Herkunftsland Schweiz zu fliehen, da er befürchten musste, wegen seiner Widerstandstätigkeit demnächst verhaftet zu werden. In der Schweiz koordinierte er über die Grenze hinweg weiterhin heimlich die Aktivitäten des von ihm aufgebauten Réseaux in Frankreich und stand dabei in Verbindung mit der hiesigen britischen Gesandtschaft. In diesem Zusammenhang trat er in Kontakt mit dem Nachrichtendienstmitarbeiter Quartier-la-Tente, welcher vom grenzübergreifenden Informationsaustausch zu Gunsten des Nachrichtendiensts profitierte und im Gegenzug Weils Grenzpassagen erleichterte. Quartier-la-Tente kooperierte dabei nachweislich selber mit der britischen Gesandtschaft und belieferte diese nebst dem schweizerischen Nachrichtendienst ebenso mit Informationen. Seine diversen Verbindungen zu ausländischen Netzwerken wurden ihm zum Verhängnis, obwohl anhand der Akten nicht eindeutig ersichtlich ist, was letztendlich ausschlaggebend war für seine Verhaftung und Verurteilung. Die Strafe betrug in seinem Falle vier Jahre Zuchthaus, die drei Mitangeklagten kamen mit geringeren Haftstrafen davon.Aus den Verhörprotokollen wird dieselbe Problematik ersichtlich, die auch Surdez in seinen Memoiren beschreibt: Einerseits die Notwendigkeit, bei stillschweigender Duldung durch die Armeeführung mit ausländischen Netzwerken zusammenzuarbeiten, andererseits die Abwälzung der rechtlichen Konsequenzen dieser nicht-neutralitätskonformen Aktivitäten von der Armeeführung auf die niederen Dienstgrade. Für Quartier-la-Tente wogen dabei die persönlichen Beziehungen zu seinen Kontaktleuten jenseits der Grenze offenbar schwerer als die Dienstanweisungen von der Armeeführung, da er auch weiterhin mit den alliierten Netzwerken kollaborierte, als er bereits vom Dienst suspendiert worden war.Anhand des Militärgerichtsdossiers konnten zahlreiche Einblicke in die grenzübergreifende Praxis des Nachrichtendienstes gewonnen werden. Ebenso liessen sich über die französische Forschungsliteratur viele der in den Verhörprotokollen erwähnten Personen und Réseaux näher identifizieren. Letztere standen mit französischen, amerikanischen, britischen, belgischen oder gar polnischen Geheimdiensten in Verbindung und waren in unterschiedlichem Masse auch auf Schweizer Boden aktiv. Interessant ist die Person Jacques Weil – als Schweizer jüdischen Glaubens, ehemaliger Unternehmer in Frankreich und Pionier der Résistance zweifellos eine Ausnahmeerscheinung. Ebenso wird aber auch die Bedeutung der Milieus von Personen deutlich, die, meist aus einfachen Verhältnissen stammend, auf beiden Seiten der französisch-schweizerischen Grenze unter hohen Risiken Passagen ermöglichten. Damit erwiesen diese sowohl dem französischen Widerstand als auch dem schweizerischen Nachrichtendienst einen grossen Dienst, erhielten jedoch wegen der neutralitätspolitischen Brisanz von den Schweizer Behörden weder eine finanzielle Entschädigung noch die ihnen gebührende Anerkennung.
Advisors: | Picard, Jacques |
---|---|
Faculties and Departments: | 04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Gesellschaftswissenschaften > Ehemalige Einheiten Gesellschaftswissenschaften > Jüdische Geschichte und Kultur der Moderne (Picard) |
UniBasel Contributors: | Picard, Jacques |
Item Type: | Thesis |
Thesis Subtype: | Master Thesis |
Thesis no: | UNSPECIFIED |
Thesis status: | Complete |
Last Modified: | 05 Apr 2018 17:39 |
Deposited On: | 06 Feb 2018 11:28 |
Repository Staff Only: item control page