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Die "Entdeckung" der Nation der Serben in den 1860er Jahren. Serbien und Montenegro in den Reisebeschreibungen der englischen Ladies G.M. Mackenzie und A.P. Irby

Panizzon Jenoure, Christina. Die "Entdeckung" der Nation der Serben in den 1860er Jahren. Serbien und Montenegro in den Reisebeschreibungen der englischen Ladies G.M. Mackenzie und A.P. Irby. 2005, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Abstract

Die Bevölkerung der Balkanhalbinsel lebte am Anfang des 19. Jahrhundert grössten Teils unter osmanischer Herrschaft. Im Verlauf des Jahrhunderts kämpften viele dieser Völker um politische Autonomie. Diese Aufstände und Befreiungskriege der Balkanvölker wurden in England und im westlichen Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts kaum wahrgenommen. Eine Ausnahme bildete der griechische Kampf, welcher von sogenannten Philhellenen aus ganz Westeuropa mit Interesse verfolgt und auch aktiv unterstützt wurde. Die nationalen Bestrebungen der slawischen Bevölkerung der Balkanhalbinsel jedoch gelangten erst einige Jahrzehnte später ins öffentliche Interesse Englands. Serben, Montenegriner und andere ethnische Gruppen blieben im Bewusstsein der englischen Öffentlichkeit einfach Bewohner von „Turkey-in-Europe“. Erst ab 1830 im Zusammenhang mit der „Orientalischen Frage“ rückte die „europäische Türkei“ und ihre vorwiegend christliche Bevölkerung ins Zentrum der englischen Aussenpolitik. Zu jener Zeit begannen auch immer mehr englische Reisende das Osmanische Reich und die osmanischen Provinzen des Balkans zu „entdecken“, unter ihnen auch Frauen. Die Balkanregionen waren auf solchen Reisen meist nur Durchgangsstationen, doch faszinierten diese Länder und ihre Bewohner einige der Frauen so stark, dass es sie immer wieder zurückzog. Viele dieser Reisenden verfassten Reisebeschreibungen, welche zu einem beliebten Lesestoff der englischen Gesellschaft wurden. Die Bilder und Wahrnehmungsmuster, welche die Autorinnen und Autoren dieser Berichte in ihre Heimat trugen, waren komplex und vielfältig. Zum Teil spiegelten diese Wahrnehmungen die offizielle englische Aussenpolitik wieder, und umgekehrt konnten Reiseberichte auch die öffentliche Meinung und sogar die Politik beeinflussen.
Diese Arbeit verfolgte das Ziel, einen Reisebericht der zwei englischen „Ladies“ Adelina Paulina Irby und Georgina Muir Mackenzie, die in den 1860er Jahren die „europäische Türkei“ bereisten und vorwiegend über die von „Südslawen“ bewohnten Gebiete geschrieben hatten, nach solchen Wahrnehmungsmustern zu untersuchen. In ihrem umfassenden Werk „Travels in the Slavonic Provinces of Turkey-in-Europe“ aus dem Jahre 1867 berichteten die zwei Frauen über die Lage der slawischen Bevölkerung des Balkans und erreichten damit, dass die englische Öffentlichkeit diese Region nicht nur als Spielball der Grossmächte wahrnahm, sondern auf die nationalen Interessen der Südslawen, insbesondere der Serben aufmerksam wurde. Weiter wurden in dieser Arbeit die Wahrnehmungsmuster und Schwerpunkte dieses Reiseberichts in Zusammenhang mit den Ideen des serbischen Nationalismus sowie mit dem Konzept der „Nation“ im 19. Jahrhundert gebracht. Einer solchen Betrachtung lag die Annahme zugrunde, dass die zwei Reisenden Mackenzie und Irby von der serbischen Nationalbewegung beeinflusst waren. In der Forschungsliteratur wurde bereits auf die slavophile Haltung der Ladies hingewiesen, doch eine kulturhistorische Untersuchung des Zusammenspiels zwischen dem Reisebericht „Slavonic Provinces“, den darin enthaltenen Wahrnehmungsmustern und dem serbischem Nationalismus war bisher nicht durchgeführt worden.
Der Unabhängigkeitskampf der Serben und Montenegriner, der sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur vollständigen Loslösung Serbiens und Montenegros aus dem osmanischen Staatsverband 1878 in mehreren Schritten vollzogen hatte, stellt in der serbischen Geschichte eine der wichtigsten Epochen dar. In jener Zeit entwickelte sich das serbische Nationalverständnis, das durch Historiker und Politiker gefördert wurde. Zur selben Zeit veränderten sich in England die Wahrnehmung und Haltung in Bezug auf die nationalen Bestrebungen der „unterworfenen“ Völker des Osmanischen Reiches. Während in den ersten Jahrzehnten noch der Unabhängigkeitskampf der Griechen die Sympathie vieler Philhellenen auf sich zog, war ab den 1830er Jahren eine durch die englische Aussenpolitik geprägte Türkophilie vorherrschend, die sich für die Unterstützung und den Erhalt des Osmanischen Reiches einsetzte. Erst ab den späten 1860er Jahren trat eine neue Welle des Philhellenismus in Erscheinung, deren Anhänger sich zunehmend für die slawische orthodoxe Bevölkerung des Balkans interessierten. Diese Slavophilie war vorwiegend christlich und im Sinne des Nationalismus motiviert und entlud sich in Mitgefühl für die unter osmanischer Herrschaft lebenden Südslawen.
So begannen auch die zwei Ladies Mackenzie und Irby, sich mit der Lage der Südslawen zu beschäftigen. Von 1859 bis 1864 bereisten sie den Balkan und die südslawischen Provinzen des Osmanischen Reiches. Das Resultat ihrer Reisen war die Veröffentlichung des Reiseberichts „Slavonic Provinces“, die ihre Sympathie für die Serben widerspiegelte und die englische Leserschaft auf die serbische Nation aufmerksam machte. Die Slavophilie der zwei Reisenden äusserte sich in einer Sympathie für die Serben und Montenegriner, die, so Mackenzie und Irby, unter dem osmanischen „Joch“ zu leiden hätten. Sowohl in der Ausübung ihrer Religion wie auch im schwierigen Zusammenleben mit der muslimischen Bevölkerung würden sie in ihrer Freiheit beraubt. Dadurch werde die Formierung eines serbischen Nationalbewusstseins geschwächt. Im sogenannten „Altserbien“ (Kosovo) würden die Serben durch die osmanische Obrigkeit und die Albaner, die dort die Bevölkerungsmehrheit bildeten, unterdrückt. Die osmanische Eroberung sei Schuld am Elend der serbischen Bevölkerung, die sich sonst zu einer wohlhabenden Gesellschaft hätte entwickeln können. Denn vor dem Einfall der Türken hätte „Altserbien“ unter christlich serbischer Herrschaft geblüht und sich in Richtung Europa entwickelt. Durch viele historische Rekurse versuchen die zwei Autorinnen aufzuzeigen, dass diese Region den Serben „zurückgegeben“ werden sollte, da dieses „Altserbien“ im 14. Jahrhundert das Herzstück des serbischen Reiches unter Zar Dušan gebildet habe. In den gesamten Beschreibungen von Städten und deren Bevölkerung greifen die zwei Frauen immer wieder auf diese historischen Argumentationsmuster zurück und verfolgen somit das Ziel, die osmanisch und albanisch geprägte Gegenwart der Region zu negieren. Die serbisch christliche Vergangenheit hingegen betonen die zwei Reisenden besonders, wodurch die Rechte der Serben auf dieses Gebiet legitimiert werden sollten. In der Beschreibung Montenegros gehen Mackenzie und Irby ebenfalls oft auf nationalpolitische Fragen ein. Die Autorinnen schildern mit Bewunderung den Kampf des montenegrinischen Volkes gegen die Osmanen, den sie als legitim betrachten, da er im Namen ganz Europas und des Christentums geführt werde. Auch die Forderung nach einem Zugang zur Adriaküste, das zentrale Anliegen der montenegrinischen Politik, wird von den zwei Frauen durch den historischen Rekurs als berechtigt dargestellt. Die osmanischen Hafenstädte an der Adria würden alle einen serbischen Charakter aufweisen und hätten im Mittelalter ebenfalls zum „glorreichen“ serbischen Reich Zar Dušans gehört.
Mackenzie und Irby orientierten sich offenbar an den Argumentations- und Legitimationsweisen der serbischen Nationalbewegung und rückten so deren politische und nationale Bestrebungen ins Zentrum ihres Reiseberichts. Auf diese Weise wurde die „Konstruktion“ der serbischen Nation, wie sie von der serbischen Nationalbewegung nach dem Vorbild der westeuropäischen Nationen gefördert wurde, von den zwei Engländerinnen in ihrem Bericht übernommen. Die Autorinnen betonen wiederholt diejenigen Elemente, die nach der Vorstellung des 19. Jahrhunderts eine Nation ausmachten. So konnten die Serben als eine Nation dargestellt werden, die nach Ansicht der Autorinnen ein Recht auf nationale Unabhängigkeit hatte. Der Einbezug des serbisch nationalen Gedankenguts in die „Slavonic Provinces“ manifestiert sich vorwiegend in der Bewunderung für die serbische Geschichte, Mythen und Helden. Die serbisch christliche Vergangenheit in der Zeit der Eigenstaatlichkeit unter Zar Dušan bildet dabei fast immer den Bezugsrahmen. Auch in der serbischen Politik und Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts war der Hauptbezug die „goldene Zeit“ unter Dušan. Dieser historische Rekurs war dabei nicht nur charakteristisch für die serbische Nationalbewegung, denn die Hauptaufgabe der Historiker des 19. Jahrhunderts bestand in fast allen Ländern Europas in der Legitimierung der Nation. Die Darstellung der nationalen Geschichte und deren Kontinuität seit dem Mittelalter half nicht nur der Formierung des kollektiven Gedächtnisses der Nation, sondern stand auch im Dienste von Gegenwart und Zukunft.
Im Zusammenhang mit der Vorliebe für historische Argumentationsmuster spielte der Kosovo-Mythos, der nationale Mythos der Serben, im Reisebericht der zwei Engländerinnen eine zentrale Rolle. Gemäss Mackenzie und Irby sei die Schlacht auf dem Amselfeld von 1389 im Bewusstsein der Montenegriner und Serben fest verankert und die Legenden über serbische Helden, so z.B. Marko Kraljević, Zar Dušan und Zar Lazar, würden in der Erinnerung des serbischen Volkes weiterleben. Auch diese Darstellung der zwei Autorinnen stand in enger Verbindung zur serbischen Nationalbewegung. Die serbischen Historiografen und Dichter des 19. Jahrhunderts hatten nämlich all diese volksüberlieferten Legenden verarbeitet und trugen so zur Reaktivierung der Helden und Mythen bei. Diese Helden spielten in der Identitätsbildung der serbischen Nation eine wichtige Rolle. Die serbische Nationalbewegung orientierte sich dabei an anderen europäischen Nationen, die im 19. Jahrhundert ebenfalls Nationalhelden als identitätsstiftende Vorbilder hervorbrachten. Teilweise geschah die Identifikation auch über historische Gestalten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte die gesamte Nation verkörpert haben sollen. In anderen Fällen verkörperte der jeweilige Herrscher, der als Vaterfigur dargestellt wurde, die gesamte Nation. Mackenzie und Irby stellen in ihrem Bericht den serbischen Fürsten Miloš Obrenović sowie den montenegrinischen Herrscher und Dichter Njegoš als solche „Väter“ der serbischen Nation dar. Diese Mythen und Heldenlegenden verwiesen meist direkt auf das Christentum. Auch Mackenzie und Irby betonen immer wieder die Zugehörigkeit der Serben und Montenegriner zum Christentum. Als Christen würden sie sich gegen die osmanische Unterdrückung auflehnen und somit im Namen ganz Europas den Kampf gegen den Islam führen. Der Kampf gegen die Osmanen hätte somit eine religiöse und sogar heilsgeschichtliche Dimension. Auch dieses Identifikationsmuster war nicht nur charakteristisch für die serbische Nation, denn für die meisten europäischen Nationen des 19. Jahrhunderts galt der Islam als Negation des Christentums.
Die Nationen des 19. Jahrhunderts definierten sich nicht ausschliesslich historisch und religiös, sondern auch durch ihre Sprachzugehörigkeit. So war die Sprache auch einer der wichtigsten identitätsstiftenden Faktoren in der Formierung der serbischen Nation. Als Mackenzie und Irby Serbien und Montenegro bereisten, befand sich die serbische Standardsprache jedoch gerade erst in ihrer Entstehungsphase. Auch der politische Status der Fürstentümer Serbien und Montenegro gegenüber dem Osmanischen Reich war in den 1860er Jahren noch undefiniert. Die zwei Ladies Mackenzie und Irby sehen die Zukunft der serbischen Nation nur in einer vollständigen Loslösung vom Osmanischen Reich. Deshalb müssten auch die serbisch besiedelten Gebiete, wie z.B. „Altserbien“, aus den Händen der Türken „gerettet“ werden. Dieses Ziel könne aber nur in einer Koalition zwischen Serbien und Montenegro, die als vereintes „Serbien“ auftreten sollten, mit Erfolg erreicht werden. Die Eingliederung des Kosovo, in dem Albaner und nicht Serben die Bevölkerungsmehrheit stellten, in einen serbischen Nationalstaat wird von den zwei Reisenden als unproblematisch betrachtet.
Mit dieser in ihrem Reisebericht „Travels in the Slavonic Provinces of Turkey-in-Europe“ vermittelten serbophilen Sichtweise trugen die zwei englischen Ladies Mackenzie und Irby wesentlich zur „Entdeckung“ der Nation der Serben für die englische Öffentlichkeit bei.
Advisors:Haumann, Heiko
Committee Members:Opitz-Belakhal, Claudia
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Geschichte der frühen Neuzeit (Opitz-Belakhal)
04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Osteuropäische und neuere Geschichte (Haumann)
UniBasel Contributors:Haumann, Heiko and Opitz Belakhal, Claudia
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:39
Deposited On:06 Feb 2018 11:27

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