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Die jüdische Gemeinde von Thessaloniki Ende des 19. Jahrhunderts - Innerjüdische Konflikte, untersucht in den Zeitungen "El Avenir" und "Journal de Salonique"

Antoniadis, Adamo. Die jüdische Gemeinde von Thessaloniki Ende des 19. Jahrhunderts - Innerjüdische Konflikte, untersucht in den Zeitungen "El Avenir" und "Journal de Salonique". 2006, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Abstract

„KE ESTE LUGAR, ANDE LOS NAZIS EKSTERMINARON UN MILYON I MEDYO DE OMBRES, DE MUJERES I DE KRIATURAS, LA MAS PARTE DJUDYOS DE VARYOS PAYIZES DE LA EVROPA, SEA PARA SYEMPRE, PARA LA UMANIDAD, UN GRITO DE DEZESPERO I UNAS SINYALES. AUSCHWITZ – BIRKENAU. 1940 – 1945.“ („Dieser Ort sei allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und der Mahnung an die Menschheit. Hier ermordeten die Nazis etwa anderthalb Millionen Männer, Frauen und Kinder. Die meisten waren Juden aus verschiedenen Ländern Europas. Auschwitz – Birkenau. 1940 – 1945.“) Am 24. März 2003, genau sechzig Jahre nach dem ersten Transport griechischer Juden in das Konzentrationslager Auschwitz, wurde in der Gedenkstätte Birkenau eine Tafel mit dieser Inschrift eingeweiht und somit den zwanzig anderen Tafeln, die seit mehreren Jahrzehnten zum Denkmal von Birkenau gehören und die Sprachen der Häftlinge repräsentieren, auch eine in der traditionellen Sprache der sefardischen Opfer hinzugefügt. Es ist unmöglich, über die Geschichte der Juden Thessalonikis zu schreiben, ohne dabei an ihr jähes und schreckliches Ende zu denken. Heute ist Thessaloniki eine durch und durch griechische Stadt, in der Geschichte fast gleichbedeutend ist mit griechischer Geschichte. Kaum etwas deutet darauf hin, dass diese Stadt während mehr als vier Jahrhunderten von sefardischen Juden geprägt wurde, die bis weit ins zwanzigste Jahrhundert die grösste Bevölkerungsgruppe stellten und somit das gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Leben Thessalonikis zu einem grossen Teil mitgestalteten. Keine Spur auch vom „Judeoespagnol“ oder „Djudezmo“, das über Jahrhunderte die meistgesprochene Sprache ihrer Bewohner war.Seit der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahr 1492 war Saloniki eines der grossen jüdischen Zentren des Osmanischen Reiches, das den Grossteil der Vertriebenen aufgenommen hatte. Erst mit der Eingliederung in den modernen griechischen Staat im Zuge der Balkankriege von 1913 begann die allmähliche „Hellenisierung“ der Stadt, die durch den grossen Brand von 1917 sowie die Ansiedlung tausender griechischer Flüchtlinge aufgrund des Bevölkerungsaustausches mit der Türkei von 1923 zusätzlich beschleunigt wurde. Auch wenn viele Juden in dieser Zeit nach Frankreich, Amerika oder Palästina emigrierten, so lebten zu Beginn des Zweiten Weltkrieges noch über 50'000 in Thessaloniki. Erst mit der Ermordung fast aller Juden Thessalonikis in den Konzentrationslagern der Nazis fand das jüdische Kapitel in der Geschichte dieser Stadt ein plötzliches und grausames Ende.Thema dieser Arbeit sind jene zwei gesellschaftlichen und politischen Konflikte, die während mehrerer Generationen das Leben der jüdischen Gemeinde von Thessaloniki bestimmten. Die erste Kontroverse zwischen so genannten „Traditionalisten“ und „Modernisten“ hatte zur Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang genommen. Als sich Letztere um die Jahrhundertwende weitgehend durchgesetzt hatten, begann mit dem Zionismus bereits ein weiteres Thema die Juden der Stadt zu beschäftigen. Um die Frage nach der Ablehnung oder Unterstützung dieser politischen Idee entstand so bald ein neuer Konflikt, der den alten ablösen und die Gemeinde in den kommenden Jahrzehnten prägen sollte. Diese Zeit des Umbruches, als die erste Kontroverse schon entschieden schien und die zweite erst im Entstehen begriffen war, steht im Mittelpunkt dieser Untersuchung.Da der Zionismus damals im Osmanischen Reich verboten war und somit keine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema stattfinden konnte, ist über die diesbezügliche Positionierung der sefardischen Bevölkerung und ihrer Meinungsträger nur sehr wenig bekannt. Anhand zwei der wichtigsten lokalen jüdischen Zeitungen jener Zeit soll deshalb versucht werden, die erste Phase der Entstehung dieses Konfliktes aufzuzeigen. Dabei wird insbesondere zu klären sein, inwiefern die Debatte um den Zionismus mit der vorangegangenen Kontroverse zusammenhängt.„The Judeo-Spanish press was reflection of political and social trends. It was not only a source for general and Jewish global and local news, but an ideological, cultural and educational forum“ (Yitzchak Kerem: The Influence of European Modernizing Forces on the Development of the Judeo-Spanish Press in the 19th Century in Salonika, S. 587, in: Winfried Busse und Marie-Christin Varol-Bornes (Hg.): Hommage à Haïm Vidal Sephiha (Sephardica 1). Bern u.a. 1996, S. 581-591). Diese Aussage von Yitzchak Kerem – die natürlich gleichermassen für die französischsprachige Presse gilt – weist gleichzeitig auf die verschiedenen Erkenntnisse hin, die durch die Benutzung solcher Zeitungen als historische Quellen gewonnen werden können.    Gemäss der formulierten Fragestellung steht im Folgenden die Rolle der beiden Zeitungen als Träger der beiden beschriebenen ideologischen Auseinandersetzungen im Vordergrund. In Anlehnung an diskursanalytische Verfahren soll versucht werden, die Positionen der untersuchten Zeitungen in Bezug auf die genannten Konflikte zu verorten. Dazu sollen jene Diskurse aufgespürt werden, die darin eine zentrale Rolle spielen. Dieses Vorgehen wird einerseits deswegen gewählt, weil die erwähnten Kontroversen nicht direkt ausgetragen wurden. Andererseits hat die gesonderte Analyse der einzelnen Diskurse den Vorteil, dass die jeweilige Haltung einer Zeitung differenzierter betrachtet werden kann.Da sich die „Modernisierung“ vor allem in einer zunehmenden Hinwendung zu „Europa“ (insbesondere zu Frankreich) und dem damit einhergehenden Streben nach technologischem aber auch politischem „Fortschritt“ sowie in einer Verdrängung des konservativen und religiösen Denkens durch laizistische Ideen und aufklärerische Werte äussert, wurden im ersten Teil der Quellenanalyse die diskursiven Felder „Europa“, „Fortschritt“ und „Religion“ für eine nähere Betrachtung ausgewählt. Indem auf möglichst alle Artikel der untersuchten Ausgaben hingewiesen wird, in denen sich beide Zeitungen mit einem der genannten Themen beschäftigen oder sich indirekt auf ein solches beziehen, soll ihre Positionierung innerhalb der genannten Diskurse deutlich gemacht werden.Dasselbe gilt auch für den zweiten Teil der Analyse, in dem die Frage nach zionistischen Positionen im Vordergrund steht. Da wegen der herrschenden Zensur und des offiziellen Verbotes zionistischer Aktivitäten gar keine offene Auseinandersetzung stattfinden konnte und sich in Thessaloniki auch noch kein organisierter Zionismus gebildet hatte, ist hier ein Ausweichen auf solche Diskurse nötig, die für das Entstehen eines sefardischen Zionismus von Bedeutung sind. Es handelt sich um also um Diskurse, die dem eigentlichen Konflikt nicht nur untergeordnet, sondern diesem auch zeitlich vorgelagert sind. Zum einen ist das die Frage nach der Loyalität zum Heimatstaat und zur eigenen osmanischen Identität. Diese sind für die Juden im Osmanischen Reich deshalb wichtig, weil sie in Konflikt zu den Zielen des politischen Zionismus und in Konkurrenz zur Betonung und Stärkung der jüdischen Identität stehen, die zugleich den zweiten zu untersuchenden Diskurs darstellt. Am Stellenwert, der dem Judentum in den beiden Zeitungen eingeräumt wird, und an der eigenen Identifikation mit diesem wird hier die Nähe zu zionistischen Ideen gemessen und beurteilt werden. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei sprachlichen Formulierungen, da die Verwendung gewisser Ausdrücke (wie z.B. „Vaterland“ oder „Nation“) oder das Einnehmen von bestimmten Perspektiven (z.B. „wir Juden“) für diese Fragen sehr aufschlussreich sind. Schliesslich soll auch die Darstellung von Antisemitismus Hinweise für zionistische Positionen liefern, spielte doch dieser als Argument in der Entstehung und für den Erfolg zionistischer Ideen eine entscheidende Rolle. Das zweite Kapitel dient der allgemeinen Einführung in die Geschichte Thessalonikis und seiner jüdischen Gemeinde im 19. Jahrhundert. Zuerst werden die Entwicklungen im Osmanischen Reich im Zuge der Reformen und deren Auswirkungen auf die jüdische Minderheit aufgezeigt. Anschliessend folgt eine Beschreibung der Veränderungen, denen Thessaloniki im ausgehenden 19. Jahrhundert durch die Industrialisierung und die Modernisierung der Infrastruktur ausgesetzt war. Zuletzt wird mit einem Blick auf die Modernisierung des jüdischen Schulwesens der zunehmende Einfluss fortschrittlicher Ideen aus dem Westen veranschaulicht.  Kapitel 3 zeichnet die Entwicklung der beiden Konflikte nach, denen sich die Analyse der Quellen im zweiten Teil der Arbeit widmet. Als Erstes wird dargelegt, wie sich die Reformer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich gegen die traditionellen Führer der Gemeinde durchsetzen konnten. Durch den zuvor aufgezeigten Wandel im Erziehungswesen bildete sich eine neue Elite heraus, die sich zunehmend an westlichen und fortschrittlichen Idealen orientierte und sich von den jüdischen Traditionen abwandte. Der zweite Abschnitt versucht, das allmähliche Aufkommen zionistischer und jüdisch-nationalistischer Ideen in Thessaloniki aufzuzeigen. Dazu wird zunächst die besondere Situation beschrieben, in der sich die Juden des Osmanischen Reiches aufgrund der Tatsache befanden, dass Palästina eine Provinz ihres Vaterlandes war und zionistische Ambitionen daher kaum mit der traditionellen Loyalität der Sefarden gegenüber dem Sultan zu vereinbaren waren. Da der Zionismus bis zur Jungtürkischen Revolution von 1908 verboten blieb, geht es im Weiteren vor allem darum, auf erste nationalistische und frühzionistische Aktivitäten in der jüdischen Gemeinde von Thessaloniki hinzuweisen. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der sefardischen Presse. Nach einer allgemeinen Einführung in die Bedeutung der verschiedenen Sprachen für die Juden des Osmanischen Reiches folgt ein Abriss der Entwicklung der jüdischen Presse in Saloniki. Anschliessend widmet sich je ein Abschnitt den beiden Zeitungen „El Avenir“ und „Journal de Salonique“, also den in dieser Arbeit verwendeten Primärquellen. Darin wird sowohl auf die Entstehungsgeschichte dieser Blätter eingegangen, als auch auf einige Personen, die diese massgeblich geprägt haben. Zusätzlich enthalten diese beiden Abschnitte einen Überblick über die hier untersuchten Ausgaben der Zeitungen, und zwar in Bezug auf Format, Preis, Inhalt und Gliederung. Zum Schluss soll hier das Problem der damals herrschenden Zensur dargelegt und seine Bedeutung für die nachfolgende Analyse diskutiert werden.Kapitel 5 ist der eigentliche Hauptteil der Arbeit und besteht in einer Untersuchung der Quellen bezüglich der genannten Konflikte. Es gliedert sich wie folgt: Für den ersten Teil, Tradition und Moderne, werden zuerst in „El Avenir“ und dann im „Journal de Salonique“ drei der wichtigsten Diskurse analysiert, in denen sich der Streit zwischen den beiden Lagern manifestierte, nämlich Europa, Fortschritt und Religion. Auf dieselbe Weise soll im zweiten Teil der Analyse zunächst die Haltung der beiden Redaktionen zur in Bezug auf Loyalität und jüdische Identität getrennt aufgezeigt werden. Danach folgt ein direkter Vergleich der beiden Zeitungen hinsichtlich des Stellenwertes, den der Antisemitismus in der Berichterstattung einnimmt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Konflikt zwischen Assimilationisten und Zionisten, der nach 1908 die jüdische Gemeinde von Thessaloniki entzweien sollte, bereits vor der Jahrhundertwende auszumachen ist. Allerdings stellen sich die jeweiligen Positionen zu diesem Zeitpunkt noch etwas anders dar. So sind zwar beim „Journal de Salonique“ durchaus assimilationistische Tendenzen zu registrieren. Diese zeugen jedoch eher von einer Anpassung an die europäischen Vorbilder als von einer Betonung der eigenen Identität als osmanische Staatsbürger. Im Gegensatz zu zionistischen Vorstellungen lehnt es jedoch ein Bekenntnis zum Judentum rundweg ab und präsentiert sich stattdessen als ein von nationaler und religiöser Zugehörigkeit unabhängiges Blatt. In „El Avenir“ ist hingegen eine starke zionistische Färbung zu erkennen. Dabei stehen die Vermittlung einer jüdischen Identität und die Stärkung des jüdischen Selbstbewusstseins im Vordergrund. Hinweise auf einen separatistischen Zionismus gibt es aber keine. Dies könnte, zusammen mit dem ausgeprägten Patriotismus, ein Zeichen dafür sein, dass die Juden im Osmanischen Reich den Zionismus aufgrund ihrer Loyalität in erster Linie als jüdischen Nationalismus begriffen, in dem die Auswanderung nach Palästina oder die Schaffung eines Judenstaates keinen Platz fanden. Denkbar wäre aber auch, dass die Zionisten von „El Avenir“ nur deshalb auf separatistische Äusserungen verzichteten, um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen. Vielleicht erklärt sich dieser „loyale Zionismus“ auch aus dem Einfluss konservativer und religiöser Kreise, der in dieser Arbeit ebenfalls festgestellt werden konnte. So gab es zu jener Zeit auch ausserhalb des Osmanischen Reiches vielerorts Einwände gegen den Zionismus aus religiöser Sicht, da dieser nicht nur den messianischen Verheissungen des Judentums widersprechen, sondern ebenso den Patriotismus der Juden in Frage stellen würde.Die Analyse der zeitgenössischen Presse erweist sich für das Aufspüren von politischen Konflikten trotz der herrschenden Zensur als sehr geeignet. Auch wenn nicht alle Fragen endgültig beantwortet werden konnten, zeichnen sich die unterschiedlichen Positionen der beiden Zeitungen deutlich ab. Die Einschränkung auf wenige Ausgaben ergibt aber nur eine Momentaufnahme, und insbesondere für eine Erforschung der Entstehung und Entwicklung des Zionismus bei den Juden im Osmanischen Reich wäre eine Ausweitung der Untersuchung auf einen grösseren Zeitraum erforderlich.
Advisors:Haumann, Heiko
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Osteuropäische und neuere Geschichte (Haumann)
UniBasel Contributors:Haumann, Heiko
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:36
Deposited On:06 Feb 2018 11:22

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