Stutzki, Ralf. Entscheidungen über das Lebensende bei Amyotrophe Lateralsklerose : empirische Untersuchungen, ethische Analysen und ein methodologischer Tugendansatz. 2013, Doctoral Thesis, University of Basel, Faculty of Medicine.
|
PDF
3470Kb |
Official URL: http://edoc.unibas.ch/diss/DissB_10529
Downloads: Statistics Overview
Abstract
In der Schweiz erhalten jährlich 150 bis 200 Menschen die verheerende Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose. Diese tödliche, progressive Erkrankung des motorischen Nervensystems mit unsicherer Pathogenese gilt derzeit als unheilbar. Die Lebenserwartung eines an ALS erkrankten Menschen liegt zum Zeitpunkt der Diagnosestellung statistisch bei drei bis fünf Jahren. Im Verlauf der Erkrankung leiden die Betroffenen häufig an Hoffnungslosigkeit, Depression und Angst vor Kontrollverlust. Auch wenn der Tod in der Regel friedlich durch Kohlendioxidnarkose eintritt, birgt der Sterbeprozess zahlreiche mögliche Komplikationen wie Atemnot, Angst- und Panikzustände sowie psychologische, spirituelle und weitere beschwerliche Symptome. Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist daher eine Erkrankung, die bei den Betroffenen den Wunsch nach Todesbeschleunigung (WTB) hervorrufen kann. Weitestgehend unerforscht waren bislang die Fragen, ob und ggfs. wann der WTB bei ALS-PatientInnen zutage tritt, wie sich der Krankheitsverlauf hierauf auswirkt und welche Haltung die unmittelbaren Angehörigen hierzu einnehmen.
In einer ersten empirischen Longitudinalstudie mit in der Schweiz lebenden ALS PatientInnen und deren Angehörigen konnten wir zeigen, dass der Wunsch nach Todesbeschleunigung unmittelbar nach der Diagnosestellung bei einer deutlichen Mehrheit von 94% der PatientInnen nicht vorhanden war. Trotzdem konnten sich mehr als die Hälfte der Befragten ein Zukunftsszenario im Verlauf der Erkrankung vorstellen, in dem sie für einen assistierten Suizid oder sogar für eine Tötung auf Verlangen („aktive Sterbehilfe“) optieren würden. Während ein Drittel der PatientInnen Themen wie (assistierten) Suizid und aktive Sterbehilfe mit einem Arzt erörtern möchte, wünscht sich sogar mehr als die Hälfte für den Fall des tatsächlich eintretenden WTB eine aktive Rolle des Arztes. Ein Drittel der Angehörigen kann sich vorstellen, ihrem erkrankten Partner bei der Umsetzung des WTB zu helfen.
Die Frage, ob und ggf. inwiefern die Patienten- und Angehörigeneinstellungen in Bezug auf den WTB im weiteren Verlauf der ALS Erkrankung ändern oder aber stabil bleiben, sollte anschliessend durch eine prospektive Längsschnittstudie beantwortet werden. Hierzu interviewten wir in einem Follow-up erneut PatientInnen und Angehörige, die an unserer Erstbefragung teilgenommen hatten. Um die Aussagekraft dieser Studie zu erhöhen, wurden die Daten einer Vergleichsstudie aus München in die Auswertung integriert. Wir konnten zeigen, dass die Einstellungen der Befragungsgruppen zum WTB in der Schweiz und Süddeutschland weitgehend übereinstimmen, über den Befragungszeitraum stabil bleiben und somit bereits in einem frühen Stadium der Erkrankung – und zwar im Anschluss an die Diagnosestellung - geformt werden.
Der ethischen Bewertung empirischer Forschung an und mit Menschen liegen weitreichende und bisweilen schwerwiegende Problemstellungen zugrunde, die eingehende empirische Studien rechtfertigen und denen sich ganze Dissertationsprojekte exklusiv widmen könnten, ohne Aussicht, alle diesbezüglich im Raum stehenden Fragen ausreichend zu beantworten. Bereits in der Planungsphase unserer Interviewstudie mit ALS-Betroffenen zeigte sich, dass die Erforschung existentieller Entscheidungen wie jener in Bezug auf das Lebensende nicht nur zu einer tiefgreifenden Analyse der Antwortenden, sondern unweigerlich auch der Fragenden führen müsse, wohl wissend, dass die Qualität des gewählten Studiendesigns und der Methodik gänzlich ausser Frage standen. Auch wenn ein empirisches Forschungsprojekt unter Einbeziehung von Menschen nach Daten und Erkenntnissen sucht und dieser Findungsprozess gemäss bestehender Regularien vorab forschungsethisch abgeklärt und legitimiert wurde, bleibt doch eine bedeutende Unsicherheit bestehen: nämlich ob wir das, was wir (erkennen) wollen und ethisch begründet tun sollen, auch tatsächlich gut ist. Diese erkenntnistheoretische Frage führte uns zeitgleich zu der Entwicklung eines forschungsmethodologischen Ansatzes, den wir den „aidōs-approach“ nennen. Der „aidōs-approach“ ist ein tugendethisches Konzept, dessen Wurzeln zurück in die Antike reichen; er soll den bewährten, auf dem Vier-Prinzipien-Ansatz basierten Umgang mit vulnerablen Gruppen unterstützen und erweitern. Dies schliesst die alltägliche Begegnung mit den sog. Schwachen und Bedürftigen in unserer Gesellschaft ebenso ein wie die auf sie ausgerichtete, wohl intendierte medizinische und medizinethische Forschung. Der „aidōs-approach“ kommt dann zum Tragen, wenn Wissen und Erkenntnis in solchen Bereichen generiert werden sollen, die nur durch Grenzüberschreitungen erreichbar sind. Er soll den Forschenden zu einem verantwortungsvollen, ganzheitlichen Umgang mit dem „Forschungsobjekt“ - in unserem Fall der lebensbedrohlich erkrankte Mensch – anleiten und somit den Prozess der Erkenntnisgenerierung gleichberechtigt und auf Augenhöhe mit dem Gegenüber ansiedeln. Mittels der hierdurch stattfindenden Entkategorisierung und Entstigmatisierung soll anstatt des „Studienteilnehmers“ oder „Patienten“ – wieder – der Mensch in den Vordergrund rücken, der in seiner nun erstarkten Position auch auf den eigentlichen Forschungsprozess Einfluss nehmen kann und soll. (Dieser Einfluss findet in der sozialwissenschaftlichen Forschung ohnehin statt; er sollte daher nicht als „Störfaktor“ betrachtet, sondern systematisch reflektiert und ausgewertet werden, wie es schon der Pionier Devereux gefordert hatte.) Durch den „aidōs-approach“ können neben den zuvor festgelegten nunmehr zusätzliche, nicht minder wichtige Studienziele definiert werden, da Erkenntnisgewinn auf breiterer Ebene möglich ist.
In einer ersten empirischen Longitudinalstudie mit in der Schweiz lebenden ALS PatientInnen und deren Angehörigen konnten wir zeigen, dass der Wunsch nach Todesbeschleunigung unmittelbar nach der Diagnosestellung bei einer deutlichen Mehrheit von 94% der PatientInnen nicht vorhanden war. Trotzdem konnten sich mehr als die Hälfte der Befragten ein Zukunftsszenario im Verlauf der Erkrankung vorstellen, in dem sie für einen assistierten Suizid oder sogar für eine Tötung auf Verlangen („aktive Sterbehilfe“) optieren würden. Während ein Drittel der PatientInnen Themen wie (assistierten) Suizid und aktive Sterbehilfe mit einem Arzt erörtern möchte, wünscht sich sogar mehr als die Hälfte für den Fall des tatsächlich eintretenden WTB eine aktive Rolle des Arztes. Ein Drittel der Angehörigen kann sich vorstellen, ihrem erkrankten Partner bei der Umsetzung des WTB zu helfen.
Die Frage, ob und ggf. inwiefern die Patienten- und Angehörigeneinstellungen in Bezug auf den WTB im weiteren Verlauf der ALS Erkrankung ändern oder aber stabil bleiben, sollte anschliessend durch eine prospektive Längsschnittstudie beantwortet werden. Hierzu interviewten wir in einem Follow-up erneut PatientInnen und Angehörige, die an unserer Erstbefragung teilgenommen hatten. Um die Aussagekraft dieser Studie zu erhöhen, wurden die Daten einer Vergleichsstudie aus München in die Auswertung integriert. Wir konnten zeigen, dass die Einstellungen der Befragungsgruppen zum WTB in der Schweiz und Süddeutschland weitgehend übereinstimmen, über den Befragungszeitraum stabil bleiben und somit bereits in einem frühen Stadium der Erkrankung – und zwar im Anschluss an die Diagnosestellung - geformt werden.
Der ethischen Bewertung empirischer Forschung an und mit Menschen liegen weitreichende und bisweilen schwerwiegende Problemstellungen zugrunde, die eingehende empirische Studien rechtfertigen und denen sich ganze Dissertationsprojekte exklusiv widmen könnten, ohne Aussicht, alle diesbezüglich im Raum stehenden Fragen ausreichend zu beantworten. Bereits in der Planungsphase unserer Interviewstudie mit ALS-Betroffenen zeigte sich, dass die Erforschung existentieller Entscheidungen wie jener in Bezug auf das Lebensende nicht nur zu einer tiefgreifenden Analyse der Antwortenden, sondern unweigerlich auch der Fragenden führen müsse, wohl wissend, dass die Qualität des gewählten Studiendesigns und der Methodik gänzlich ausser Frage standen. Auch wenn ein empirisches Forschungsprojekt unter Einbeziehung von Menschen nach Daten und Erkenntnissen sucht und dieser Findungsprozess gemäss bestehender Regularien vorab forschungsethisch abgeklärt und legitimiert wurde, bleibt doch eine bedeutende Unsicherheit bestehen: nämlich ob wir das, was wir (erkennen) wollen und ethisch begründet tun sollen, auch tatsächlich gut ist. Diese erkenntnistheoretische Frage führte uns zeitgleich zu der Entwicklung eines forschungsmethodologischen Ansatzes, den wir den „aidōs-approach“ nennen. Der „aidōs-approach“ ist ein tugendethisches Konzept, dessen Wurzeln zurück in die Antike reichen; er soll den bewährten, auf dem Vier-Prinzipien-Ansatz basierten Umgang mit vulnerablen Gruppen unterstützen und erweitern. Dies schliesst die alltägliche Begegnung mit den sog. Schwachen und Bedürftigen in unserer Gesellschaft ebenso ein wie die auf sie ausgerichtete, wohl intendierte medizinische und medizinethische Forschung. Der „aidōs-approach“ kommt dann zum Tragen, wenn Wissen und Erkenntnis in solchen Bereichen generiert werden sollen, die nur durch Grenzüberschreitungen erreichbar sind. Er soll den Forschenden zu einem verantwortungsvollen, ganzheitlichen Umgang mit dem „Forschungsobjekt“ - in unserem Fall der lebensbedrohlich erkrankte Mensch – anleiten und somit den Prozess der Erkenntnisgenerierung gleichberechtigt und auf Augenhöhe mit dem Gegenüber ansiedeln. Mittels der hierdurch stattfindenden Entkategorisierung und Entstigmatisierung soll anstatt des „Studienteilnehmers“ oder „Patienten“ – wieder – der Mensch in den Vordergrund rücken, der in seiner nun erstarkten Position auch auf den eigentlichen Forschungsprozess Einfluss nehmen kann und soll. (Dieser Einfluss findet in der sozialwissenschaftlichen Forschung ohnehin statt; er sollte daher nicht als „Störfaktor“ betrachtet, sondern systematisch reflektiert und ausgewertet werden, wie es schon der Pionier Devereux gefordert hatte.) Durch den „aidōs-approach“ können neben den zuvor festgelegten nunmehr zusätzliche, nicht minder wichtige Studienziele definiert werden, da Erkenntnisgewinn auf breiterer Ebene möglich ist.
Advisors: | Reiter-Theil, Stella |
---|---|
Committee Members: | Weber, Markus |
Faculties and Departments: | 03 Faculty of Medicine > Departement Public Health > Ehemalige Einheiten Public Health > Medizin- und Gesundheitsethik (Reiter-Theil) |
UniBasel Contributors: | Stutzki, Ralf and Reiter-Theil, Stella and Weber, Markus |
Item Type: | Thesis |
Thesis Subtype: | Doctoral Thesis |
Thesis no: | 10529 |
Thesis status: | Complete |
Number of Pages: | 1 Bd. |
Language: | English |
Identification Number: |
|
edoc DOI: | |
Last Modified: | 05 Apr 2018 17:34 |
Deposited On: | 18 Oct 2013 12:53 |
Repository Staff Only: item control page