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Ethische Problemstellungen bei pränataler Diagnostik und spätem Schwangerschaftsabbruch aus unterschiedlicher Indikation : eine explorative Interviewstudie zur Wahrnehmung von Konfliktsituationen aus der Perspektive von Ärztinnen, Ärzten und Hebammen

Date Issued
2011
Author(s)
Tanner, Sabine  
DOI
10.5451/unibas-006071516
Abstract
Hintergrund: Vorgeburtliche Untersuchungen werden heute jeder schwangeren Frau innerhalb der Schwangerenvorsorge angeboten. Werdende Eltern sind gefordert, sich Gedanken zu machen über die Vor- und Nachteile sowie die jeweiligen Konsequenzen einer Inanspruchnahme. Viele Paare fühlen sich angesichts solcher Entscheidungen verunsichert oder überfordert. Internationale Studienergebnisse zeigen, dass Ärztinnen und Ärzte die Aufklärung und Beratung von Paaren oft als eine grosse Herausforderung erleben: sowohl wenn es um die Möglichkeiten, Grenzen, Risiken und Konsequenzen von Untersuchungen geht, als auch bei einer diagnostizierten Fehlbildung. In der Regel können Fehlbildungen beim Kind relativ früh in der Schwangerschaft festgestellt werden, was - gegebenenfalls - auch einen relativ frühen Schwangerschaftsabbruch erlaubt. Es gibt jedoch diagnostikbedingte Umstände, die zu Schwangerschaftsabbrüchen im späten 2. Trimester oder (wie in anderen Ländern praktiziert) auch im 3. Trimester führen. Nach der 22. Schwangerschaftswoche besteht die Möglichkeit, dass ein Kind mit Lebenszeichen zur Welt kommt. Das Kind wird in diesem Fall üblicherweise mit einer Comfort Care versorgt. In der Schweiz werden Spätabbrüche in der Regel bis zur 24. Woche vorgenommen- in anderen Ländern auch noch später, zum Teil bis zur Geburt. Um ein Überleben des Kindes zu verhindern, wird in diesen Ländern vor dem Abbruch ein Fetozid durchgeführt. Aus ethischer Perspektive ergeben sich verschiedene Fragen, die mit der Verfügbarkeit von vorgeburtlichen Untersuchungen einhergehen: Sollen vorgeburtliche Untersuchungen überhaupt durchgeführt werden? Erleben Paare durch die Verfügbarkeit von pränatalen Untersuchungen ein Gefühl der Verpflichtung, diese für sich in Anspruch zu nehmen? Entsteht dadurch womöglich die Gefahr, dass Paare Untersuchungen unreflektiert durchführen lassen? Welche Verantwortung tragen Paare und Ärzte gegenüber einem ungeborenen Kind und eventuell Verwandten, wenn es um Pränataldiagnostik geht? Resultiert die Durchführung von pränatalen Untersuchungen in einer Diskriminierung von Menschen mit einer Behinderung? Wie können Ärztinnen und Ärzte das Recht des ungeborenen Kindes auf Leben schützen und vertreten und gleichzeitig mit dem Recht oder auch dem „Anspruch“ von werdenden Eltern auf Entscheidungsfreiheit umgehen?

Methode: Mit dieser Studie wurde die Sichtweise von Ärzten und Hebammen zu Fragestellungen in folgenden drei Themenbereichen exploriert: vorgeburtliche Diagnostik, später Schwangerschaftsabbruch sowie Beratung und Betreuung von Paaren bei Pränataldiagnostik und Spätabbruch. Mittels semistrukturiertem Interview wurden 16 Ärzte (Fachgebiete Pränataldiagnostik, Beratung, Geburtshilfe und Neonatologie) und 5 Hebammen an einem schweizerischen Universitätsspital befragt. Die Aussagen wurden mit einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet, unter Berücksichtigung der etablierten Gütekriterien.

Ergebnisse: Die befragten Ärzte und Hebammen gaben an, dass für die Durchführung von vorgeburtlichen Untersuchungen in der Klinik ein einheitliches Vorgehen besteht, welches für gut befunden wurde. Die Risikoaufklärung beim Ersttrimesterscreening und der Zeitdruck bei Diagnostik und Beratung wurden als Herausforderung beschrieben, insbesondere der Umgang mit Irrtumswahrscheinlichkeiten bei Untersuchungsergebnissen. Als besonders schwierig wurde die Beratung bei einem Schwangerschaftskonflikt beschrieben, wenn sich Eltern einen Abbruch wünschen, der aus medizinischer und ethischer Sicht nicht gerechtfertigt werden kann. Die Mehrheit bewertete die Schwangerenbetreuung beim Spätabbruch als gut aufgrund der klinikinternen Vernetzung, der ärztlichen Beratung und der bedürfnisgerechten Vorgehensweise. Kontrovers waren die Meinungen beim Thema Fetozid vor einem Spätabbruch. Die einen bewerteten die Durchführung als unzumutbar. Die anderen befürworteten den Fetozid, weil dadurch verhindert werden könne, dass ein Kind möglicherweise mit Lebenszeichen zur Welt kommt. Mehr als die Hälfte der Befragten gaben an, mindestens einmal erlebt zu haben, dass ein Kind mit Lebenszeichen zur Welt kam. Vor allem die Hebammen berichteten über eigene Erlebnisse, die sie emotional stark belasteten.

Diskussion: Die Hauptbefunde dieser explorativen Interviewstudie gehen in die gleiche Richtung wie internationale Studienergebnisse. Dies lässt den Schluss zu, dass die berichteten Problemstellungen unabhängig vom klinischen Setting bestehen. Die Ergebnisse widerspiegeln einen besonderen Typ von ethischen Konflikten, mit dem Ärzte und Hebammen in der Pränatalmedizin, Beratung, Geburtshilfe und Neonatologie konfrontiert sind. Dieser Konflikttyp gründet in einer doppelten Fürsorgepflicht: einer Pflicht zur Fürsorge gegenüber der schwangeren Frau bzw. der werdenden Eltern auf der einen Seite und gegenüber dem ungeborenen Kind auf der anderen Seite, dessen Schutzanspruch mit dem Fortschreiten der Schwangerschaft wächst. Im medizinisch-therapeutischen Kontext ist eine Autonomiekonzeption verbreitet, welche die Selbstbestimmung und damit den Entscheidungsraum einer einzelnen Person umfasst. Im nicht-therapeutischen Kontext wie etwa bei pränataler Diagnostik geht es dem gegenüber um Entscheidungen mit möglichen Konsequenzen, die weit über eine einzelne Person hinausgehen. Vor diesem Hintergrund scheint es wichtig, dass die ärztliche Aufklärung und Beratung der Eltern auf eine erweiterte Autonomiekonzeption gestützt wird. Ein erweitertes Autonomieverständnis lässt zum Beispiel die Frage zu, ob Eltern ein uneingeschränktes Recht auf autonome Entscheidungen in der Familienplanung zukommen darf oder nicht und welche Einschränkungen hier als ethisch angemessen zu bewerten sind.
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