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Der 11. September 2001 - Mythos einer neuen Ära

Winiger, Armin. Der 11. September 2001 - Mythos einer neuen Ära. 2004, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Abstract

1. Fragestellung
Im Zentrum der Arbeit steht der Versuch, das Zusammenspiel von Sprache und Handlungen, Fakten und Fiktionen, Ideologie und Realität sichtbar zu machen. Anhand einer Analyse von politischer Semantik und politischem Handeln soll geklärt werden, was der Präsident der Vereinigten Staaten mit dem Begriff der „Neuen Ära“, den er nach den Terroranschlägen von New York und Washington im Jahr 2001 verwandte, meint. Des Weiteren geht es um die Frage, inwiefern seine diesbezüglichen Vorstellungen mit dem politischen Vorgehen verknüpft sind, und schliesslich, wie diese radikalen Veränderungen, die ein Epochenwechsel ja impliziert, im Austausch mit der Öffentlichkeit vonstatten gingen. Um die Zusammenhänge besser verstehen zu können, welche die Propagierung des „Kriegs gegen den Terror“ mit all seinen Ausprägungen überhaupt erst möglich gemacht haben, werden dem eigentlichen Thema zwei längere Ausführungen vorausgeschickt. Entsprechend der Fragestellung werden neben den Umwälzungen in der amerikanischen Medienlandschaft während des Jahrzehnts vor George W. Bushs Wahl zum Präsidenten auch einige strukturelle Konsequenzen aufgezeigt, die mit der Vermittlung der Realität durch die Massenmedien einhergehen. Weitere Ausführungen sind der ideologischen Vorgeschichte gewidmet, da die angeblich neue Epoche genauso wie die Selbstmordattentate in einen Kontext eingebettet ist, der lange vor dem 11. September 2001 „geschrieben“ worden war.
2. Medien und Politik in den USA
Im Verlauf der Neunzigerjahre kam es im Bereich der Massenmedien zu Neuerungen, die Anlass gaben zur Vorstellung, dass ein neues Zeitalter angebrochen sei. Internet und Mobilfunk haben die Regeln des Informationsaustauschs verändert, räumliche und zeitliche Distanzen wurden verringert. In ökonomischer Hinsicht hat während der gleichen Zeitspanne eine beträchtliche Konzentration bei den Besitzverhältnissen der US-Medienlandschaft stattgefunden. Mit der fortgesetzten Deregulierung begünstigte die Politik jene wirtschaftlichen Entwicklungen, die dazu geführt haben, dass Ende des Jahrzehnts ein grosser Teil des amerikanischen Medienmarktes von einer Handvoll Unternehmen bedient wurde. Film- und Musikindustrie, Radio, Fernsehen, Presse, Verlage, Netzbetreiber und Internetdienste konnten nun zusammenwachsen, sodass schon bald neue Konglomerate entstanden, die Produktion, Ausstrahlung und Vertrieb von Medienprodukten im gleichen Haus vereinen. Durch die breite Verflechtung der Firmen mehrten sich dadurch die Interessenkonflikte bei der journalistischen Tätigkeit, die Grenzen zwischen Information, Reklame und Unterhaltung wurden zunehmend verwischt.
Neben vereinzelten Eingriffen staatlicher oder privater Zensur wirkte (und wirkt) sich vor allem die strukturelle Befangenheit der Massenmedien auf die repräsentierte Meinungsvielfalt in der Öffentlichkeit aus. Die Abhängigkeit von Werbeeinnahmen und die wirtschaftlichen Vorteile von Medienprodukten mit kaufkräftigem Publikum haben zur Folge, dass umstrittene Standpunkte marginalisiert und die Probleme der Mittel- und Oberschicht bevorzugt behandelt werden. Durch die Neigungen journalistischen Schreibens – etwa die Betonung von Konflikten, ironische Distanziertheit oder die Hervorhebung von Strategie und Taktik gegenüber den politischen Ergebnissen – wird ferner die Illusion einer Objektivität erzeugt, die in der Regel auf einer Position zwischen den einflussreichen Interessensgruppen basiert. Eine weitere Tendenz des Tagesjournalismus besteht schliesslich darin, dass die Neuigkeiten vorzugsweise aus „offiziellen“ Quellen bezogen werden, gewöhnlich aus Stellungnahmen von Regierungsvertretern und einer geringen Zahl ausgewählter „Experten“. Es ist daher wenig erstaunlich, dass beispielsweise Umfragen in den Vereinigten Staaten zum Verhältnis zwischen Israel und Palästina auf ein verzerrtes Bild von der Realität in der breiten Bevölkerung hinweisen. Das Gewicht staatlicher Informationsquellen liefert auch – zusammen mit der nationalen Organisation der Presse – eine Erklärung für die nationalistische Grundhaltung, die in der Berichterstattung allgemein beobachtet werden kann.
3. Kritik an der Clinton-Administration
Die Zeit, als Bill Clinton Anfang der Neunzigerjahre das Amt des US-Präsidenten antrat, war geprägt von einem weit verbreiteten Optimismus. Der Fall der Berliner Mauer war noch frisch im kollektiven Gedächtnis und das friedliche Ende des Kalten Krieges gab Anlass zu Hoffnungen auf eine versöhnlichere Zukunft. Diese positive Grundstimmung wurde zwar von einem beachtlichen Wirtschaftswachstum getragen, konnte aber nicht über die politischen Krisen hinwegtäuschen. Eine wachsende Zahl düsterer Prophezeiungen klagte die dekadente Gegenwart an und bestimmte zunehmend die öffentliche Diskussion in den USA. Die oppositionellen Stimmen, die sich später hinter die Kandidatur von George W. Bush stellten, brachten dabei ihre eigenen Anschauungen in der Kritik an Präsident Clinton zum Ausdruck. Ihre Manifeste und Kampagnen offenbaren daher bereits die Stossrichtung jener Politik, die Bush nach dem 11. September 2001 verwirklichen sollte. So nutzten die konservativen Evangelisten Clintons Einsatz für die Legalisierung der Abtreibung oder für die Anliegen der Homosexuellen ebenso wie das Sexualleben des Präsidenten, um den moralischen Zerfall der amerikanischen Gesellschaft anzuklagen und die Repräsentanten der Regierung zu diffamieren. Neokonservative Intellektuelle nahmen die Aussenpolitik ins Visier, indem sie sich gegen ein multilaterales Vorgehen stellten und stattdessen für einen Alleingang und militärische Aufrüstung plädierten. Während sie Clinton Nachgiebigkeit gegenüber Saddam Hussein vorwarfen, forderten sie in ihren Memoranden unter anderem eine stärkere Parteinahme für Israel, eine kompromisslosere Haltung gegenüber China und den baldigen Sturz des irakischen Regimes. Samuel Huntington, Autor des Buches „Kampf der Kulturen“, sowie andere Stimmen aus dem konservativen Lager warnten wiederum vor dem Zerfall der amerikanischen Gesellschaft. Sie wandten sich gegen die Einführung von Quotenregelungen für Minderheiten, die stärkere Gewichtung aussereuropäischer Kulturen im Lehrprogramm der Schulen oder die Forderung nach „politischer Korrektheit“ im öffentlichen Diskurs. Bei der Nennung von Alternativen zur offiziellen Politik schwankten sie jeweils zwischen Kampagnen zur „Assimilation“ oder „Amerikanisierung“ der ausländischen Bevölkerung und der Verhängung eines Einwanderungsstopps, beziehungsweise einer strengeren Selektion der Immigranten nach Kriterien der Herkunft und Ausbildung. Damit wollten sie ihren Aussagen zufolge nationale Einigkeit stiften und die Identität der Vereinigten Staaten als „westliche“ Nation mit einem angelsächsisch-protestantischen Gepräge bewahren.
Analyse I: Diskurse bei Bush
In den Reden und Stellungnahmen von Bush zu den Selbstmordattentaten lassen sich drei Diskurse unterscheiden, die in zahlreichen Textstellen belegt werden können: die Apokalyptik, der Universalismus und der Kampf der Kulturen. Deutlich erkennbar werden diese Denkmuster etwa in seiner Beschreibung eines Endkampfes zwischen einer guten und einer bösen Macht, durch die Beanspruchung einer universalen Führungsrolle oder durch das Heraufbeschwören einer kulturellen Wertegemeinschaft. Der „Krieg gegen den Terror“, von der Bush-Administration als Reaktion auf die Verbrechen des 11. Septembers initiiert, folgt dabei weitgehend den Gesetzen der genannten Diskurse. Die Konsequenzen davon sind unter anderem an zwei Kriegen gegen muslimische Gesellschaften abzulesen sowie an den zahlreichen militärischen Operationen in verschiedenen Ländern. Daneben wurden in den Vereinigten Staaten die Einreisebestimmungen verschärft, die Rechte der Individuen beschnitten und eine parallele Gerichtsbarkeit geschaffen. Die Wahl der Worte steht also in einem direkten Zusammenhang zu den politischen Massnahmen, sie entscheidet bereits im Wesentlichen über das tatsächliche Vorgehen. Um die Unterstützung für seine Politik weiterhin sichern zu können, muss sich Bush an die Logik der genannten Diskurse halten, da er sonst seine Glaubwürdigkeit verlieren würde. Einmal in Gang gesetzt, kann er die Apokalypse nicht mehr ungestraft widerrufen. Die wichtigsten Elemente, die seine künftigen Handlungen vorzeichnen, sind daher die Eskalation, die Verausgabung der Macht und die Betonung kultureller Gegensätze.
Analyse II: Ideologie und Realität
Angesichts solch verheerender Implikationen drängt sich die Frage auf, wie dieses problematische Weltbild in der amerikanischen Öffentlichkeit zur vorherrschenden Überzeugung werden konnte. Zunächst gilt es festzustellen, dass die Bush-Administration verschiedentlich versucht hat, Kritik an ihrem Vorgehen von den Kanälen der Massenmedien fernzuhalten. Dabei kam ihr die allgemeine Haltung der Medienschaffenden entgegen, die seit dem 11.September – sei es aus Furcht vor einer Kündigung, beziehungsweise einem Verlust an Werbeeinnahmen oder aus Loyalität zu einem Krieg führenden Präsidenten – meist darauf verzichteten, die offizielle Politik in Frage zu stellen. Die Konstruktion einer „öffentlichen Meinung“ mit repräsentativen Umfragen, die sich vorwiegend an der Argumentation von Regierungsvertretern orientierten, half überdies, den irreführenden Eindruck zu erwecken, dass der „Krieg gegen den Terror“ dem Willen einer überwältigenden Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung entsprach.   Während die kritischen Stimmen an den Rand gedrängt wurden, traten Evangelisten und Neokonservative umso mehr in den Vordergrund und unterstützten den Präsidenten mit Worten und Taten, was bisweilen zu Hetzkampagnen gegen Andersdenkende führte. Trotz augenfälliger Unterschiede zwischen der christlichen Rechten und den neokonservativen Intellektuellen ergänzten sich die beiden Lager jetzt zu einem ideologischen Komplex, der nationale Einigkeit und religiöses Heil versprach. Ihre Anschauungen verschmolzen mit dem „Krieg gegen den Terror“ und bildeten gewissermassen die Schablonen für die Gestaltung der „Neuen Ära“. Während einige Prediger von göttlicher Vorsehung sprachen, die für Bushs Handeln verantwortlich sei, war der Krieg gegen den Irak und überhaupt die konkrete Aussenpolitik inklusive der Doktrin des Präventivkriegs jedoch den Köpfen der Neokonservativen entsprungen, die selber zahlreiche wichtige Regierungs- und Beraterposten in der Bush-Administration bekleideten. Die Erwartungen der konservativen Evangelisten wurden wiederum von Bushs Image als gläubiger Christ reflektiert. Mit der Inszenierung des Präsidenten als Privatmann und Familienvater wurde jedoch gleichzeitig von der ideologischen Ausrichtung des politischen Programms abgelenkt, um eine emotionale Identifikation mit der restlichen Bevölkerung herstellen zu können, die sich kaum für die moralische Strenge der christlichen Rechten begeistern liess.
Eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung des Bushschen Weltbildes spielte ferner die sprachliche Formulierung sowie die Struktur des Argumentationsaufbaus. Die kurzen Sätze, meist beginnend mit dem Subjekt, gefolgt von einem aktiven Verb im Futur, signalisieren dem Publikum den Willen zur Veränderung und fordern es dazu auf, dem apokalyptischen Sprecher Folge zu leisten. Besonders typisch für die Reden des Präsidenten sind häufige Wiederholungen einzelner Wörter oder ganzer Satzteile. Die Einfachheit seiner Sprache erhält dadurch eine eindringliche Prägnanz und entfaltet eine suggestive Wirkung, die auf das Unterbewusstsein der Zuhörer abzielt. Historische Konnotationen lassen Erinnerungen an vergangene Bedrohungen und als Helden verehrte Persönlichkeiten aufleben, so dass die entsprechenden Emotionen und Werturteile auf die gegenwärtigen Akteure übertragen werden. Anstelle einer Konkretisierung der angekündigten Vergeltungsmassnahmen und Notstandsgesetze stehen wiederum Metaphern, Analogien und andere sprachliche Figuren, wodurch die Phantasie des Publikums gewissermassen zum Komplizen eines rücksichtslosen Vorgehens gemacht wird. Dabei schöpfen die wachgerufenen Assoziationen ihre Kraft stets aus einer unüberwindbaren Kluft zwischen einem guten und einem bösen Prinzip, die sämtlichen Reden Bushs zugrunde liegt. Das ursprüngliche Symbol dieses Gegensatzes sind die Bilder von den Verbrechen des 11. Septembers, die gleichzeitig den Kern eines Mythos begründen. Indem Bush die störende Frage nach den Ursachen der Selbstmordattentate durch eine Reihe analogischer Umschreibungen eines freiheitlichen, demokratischen Amerikas in eine mythische Erzählung integriert, macht er sich sozusagen den Rücken frei von der belastenden Geschichte, die von der Verstrickung der Vereinigten Staaten mit den afghanischen Mudschaheddin, dem Königshaus von Saudi-Arabien und dem irakischen Präsidenten Saddam Hussein berichtet. Dem tragischen Ereignis wird auf diese Weise die Geschichte entzogen, allein die Tatsache der Verbrechen soll die eigene Unschuld bezeugen. Damit hatte Bush in seiner Rede vor dem Kongress am 20. September 2001 erstmals die argumentative Grundlage präsentiert, mit der nun die Umsetzung der Pläne für den „Krieg gegen den Terror“ im Einklang mit der „öffentlichen Meinung“ in Angriff genommen werden konnte. Genau hier liegt jedoch auch die Ursache für das zwangsläufige Scheitern in Bezug auf die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus, nämlich in der Weigerung, die Selbstmordattentate rational verstehen zu wollen, Gründe für das Geschehene in der Vorgeschichte zu suchen und damit auch die eigene angebliche Unschuld zur Debatte zu stellen.
Advisors:Jeismann, Michael
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:06 Feb 2018 11:30
Deposited On:06 Feb 2018 11:30

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