Vogt, Wolfgang. Der Aufbau der Krankenversicherung in Lichtenstein. Von den Anfängen in den 1870er Jahren bis zum Wechsel an die Seite der Schweiz. 2009, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.
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Official URL: https://edoc.unibas.ch/60709/
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Abstract
Das Ziel der vorliegenden Lizenziatsarbeit ist es, anhand der Entwicklungen der Krankenversicherung in Liechtenstein von den ersten Krankenversicherungen in der Textilindustrie um 1870 bis zur Festigung der Bindungen zur Schweiz in der Folge des Zollvertrags von 1924 beispielhaft die vielfältigen Schwierigkeiten im Aufbau eines sozialen Sicherungs- und Vorsorgesystems zu zeigen. Wenn Liechtenstein heute über ein hoch entwickeltes Krankenversicherungswesen verfügt, so wurden die Grundsteine für die heutigen sozialstaatlichen Errungenschaften doch in einer Zeit gelegt, in der Armut und wirtschaftlich bedingte soziale Probleme eine Vorsorge und Sicherungspolitik zu einer Notwendigkeit machten. Die Krankenversicherung war dabei lange Zeit die einzige Form sozialer Vorsorge. Andere Bereiche wie die Altersvorsorge, die Arbeitslosen- oder die Invalidenversicherung werden daher auch im Hinblick auf den Untersuchungszeitraum ausgeklammert. Dabei sollen ausgehend von den Quellenbeständen im Liechtensteinischen Landesarchiv die verschiedenen Akteure, von staatlicher, institutioneller und privater Seite genauer beleuchtet und wo möglich ihre Motive dargelegt werden. Nicht zu vergessen ist bei einer derartigen Untersuchung die Kleinheit Liechtensteins. Bemühungen um eine Krankenversicherung des Landes können nicht verstanden werden, ohne die Entwicklung in seinen grösseren Nachbarländern Österreich und Schweiz, mit denen Liechtenstein in seiner Geschichte untrennbar verbunden ist, im Auge zu behalten. Zugleich sorgten spezifisch liechtensteinische Bedingungen auch für eine eigenständige Entwicklung der Krankenversicherung. Der Weg zum modernen Sozialstaat Liechtenstein nahm in der Folge keine einheitliche und klar zielgerichtete Entwicklung, an verschiedenen Punkten mussten Rückschläge eingesteckt werden und teils war zu wenig Problembewusstsein vorhanden.Die Einleitung legt den Aufbau der Arbeit dar und soll anhand eines kurzen Überblicks über die hauptsächlich verwendete Literatur zugleich eine Orientierung zum derzeitigen Forschungsstand bezüglich des Themas geben. Dies geschieht sowohl in Bezug auf liechtensteinspezifische Literatur, als auch mit Zuhilfenahme wichtiger Forschungen zur mitteleuropäischen Geschichte der Krankenversicherung. Die Quellenlage wird in einem gesonderten Abschnitt dargestellt. Als letzter Punkt des einleitenden Teils folgt ein Abschnitt zur besseren Kontextualisierung des Themas innerhalb der Geschichte Liechtensteins.Der Hauptteil der Arbeit ist in vier grob chronologisch und thematisch geordnete Abschnitte aufgeteilt. Die Ausgangslage der Untersuchung ist dabei die in Liechtenstein sehr spät einsetzende Industrialisierung in den 1860er Jahren. Mit der Industrialisierung des Landes wurde die Errichtung sozialer Vorsorgesysteme, insbesondere der Kranken- und Unfallversicherung notwendig. Ein erster Abschnitt beschäftigt sich daher mit den ersten Krankenversicherungen in Form verschiedener Betriebskrankenkassen, die sich noch ohne gesetzliche Regelung zur Krankenvorsorge in Liechtenstein etablierten. Als die Unternehmenskrankenkassen zunehmend als unzureichend empfunden wurden und auch ausserhalb der Textilfabriken eine Krankenversicherung dringender wurde, kam es zu verschiedenen Initiativen von privater Seite, mit dem Ziel den Versicherungsschutz zu verbessern oder auszuweiten. Diesen als Vereinen organisierten Hilfskassen auf dem Prinzip der gegenseitigen Versicherung widmet sich der zweite Abschnitt der Untersuchung. Auf diese Initiativen hin erhielten auch Bevölkerungskreise ausserhalb der Arbeiterschaft Zugang zu einer Krankenversicherung, womit eine erste Ausweitung der Krankenversicherung einsetzte. Der dritte Abschnitt wendet sich der Rolle des Staates zu. Erst nach der Jahrhundertwende kam es von staatlicher Seite zu direkten Massnahmen zur Verbesserung des Arbeitnehmerschutzes und zum Aufbau einer Sozialversicherung. Eine neue Gewerbeordnung sollte 1910 ein Versicherungsobligatorium für alle Arbeitnehmer einführen, das Gesetz scheiterte jedoch am Widerstand des Kleingewerbes und der Bevölkerung sowie am Kriegsausbruch. Im vierten und letzten Abschnitt des Hauptteils wird der Untersuchungszeitraum mit Liechtensteins Neuorientierung hin zur Schweiz abgeschlossen. Gerade in einer Zeit wirtschaftlicher Krisen nach dem Kriegsende kam es in der Sozialpolitik zu einer regelrechten Aufbruchstimmung. Insbesondere soll dabei auf die verstärkte Rolle externer Experten eingegangen und damit Anfänge einer Verwissenschaftlichung der Sozialversicherungen aufgezeigt werden. Auch von privater Seite veränderte sich die Zusammensetzung der Krankenversicherungen in Liechtenstein in den 1920er und 1930er Jahren mit einer weiteren Kassengründung und dem Eintritt schweizerischer Versicherungen in den liechtensteinischen Markt. Die Konkurrenzsituation und legislative Massnahmen sorgten in dieser Periode für eine starke Verbesserung des Versicherungsschutzes.Im Vergleich zu den beiden Nachbarstaaten Österreich und Schweiz drängt sich für die Zeit von der Gründung der ersten Krankenversicherung 1870 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine weitgehende Übernahme des österreichischen Modells auf. Bereits in der Gewerbeordnung von 1865 zeigt sich die Rezeption österreichischer Regelungen. Als erste wirkungsvolle Massnahme zum Arbeiterschutz von staatlicher Seite kann man durchaus die Einbeziehung der österreichischen Gewerbeinspektoren 1886 betrachten. Es waren österreichische Beamte, die gestützt auf die im Kaiserreich geltenden Vorschriften ihren Pflichten nachkamen und auch für Liechtenstein österreichische Standards durchsetzten. Die Gewerbeinspektoren konnten erstaunliche Verbesserungen in den Betriebskrankenkassen durchsetzen. Nicht alle Beschwerden von Seiten der Inspektoren verliefen jedoch erfolgreich und wo keine eindeutige Rechtsverletzung vorlag, drückten sich die Unternehmensleitungen des Öfteren um die Verbesserung der angekreideten Zustände oder verzögerten die Behebung der Probleme.Die erste Krankenversicherung Liechtensteins wurde 1870 von einem österreichischen Unternehmen gegründet. In der Folge der neuen gesetzlichen Minimalstandards aufgrund der Gewerbeordnung von 1910 kam es zu einer weiteren Angleichung der Betriebskrankenkassen, nach der sich die drei betrieblichen Kassen zumindest bezüglich der Krankenversicherungen nur noch in Details unterschieden. Die Fabrikbesitzer passten sich ohne grosse Widerstände an die neuen Bestimmungen an. Selbst von Seiten der Fabrikanten war man sich der Unzulänglichkeiten der bestehenden Kassen bewusst, es fehlte nur ein Anstoss zum Handeln. Eine wichtige Rolle im Ausbau des Versicherungsschutzes kam auch verschiedenen Hilfsvereinen und in Vereinsform organisierten Krankenkassen als private Initiativen zu. Die Form der gegenseitigen Hilfe auf Vereinsbasis genoss ein hohes Ansehen.In der Diskussion um eine neue Gewerbeordnung ab 1910 mutet der Widerstand des Gewerbes gegen die Krankenversicherung zumindest teilweise paradox an. Aus Sicht des Gewerbes entscheidend waren die stärkere Reglementierung und die Angst vor staatlichen Eingriffen, welche bereits kurz nach In-Kraft-Treten der Gewerbeordnung zu massiven Widerständen führte. Weitere Gegenstimmen kamen aus der frisch formierten und proschweizerisch orientierten parlamentarischen Opposition, sowie von Seiten des Kranken-Unterstützungs-Vereins, der sich aus finanziellen Gründen wenig kooperativ zeigt. Das erste Versicherungsobligatorium für die gesamte Arbeitnehmerschaft scheiterte trotz eines ursprünglichen politischen Konsenses an einer heterogenen Allianz mit unterschiedlichen Beweggründen. Spätestens mit dem Kriegsausbruch und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten war auch der in den Debatten nur selten direkt angegriffene Krankenversicherungsartikel mit dem Versicherungsobligatorium für alle Arbeitnehmer nicht mehr zu halten. Dennoch ist es im Rückblick erstaunlich, wie leichtfertig das Parlament mit der Revision der Gewerbeordnung die Entwicklung der liechtensteinischen Sozialversicherung um Jahrzehnte zurückwarf.Obschon die Textilfabriken schon bald eine beachtliche Anzahl an Personal beschäftigten, kam es nicht zu einer eigentlichen Arbeiterbewegung. Der Grossteil der Beschäftigten waren Frauen und so blieb die Arbeiterschaft noch weitgehend im Bauerntum verwurzelt. Besonders in der Anfangszeit waren die relativ wenigen Männer, die in der Textilindustrie Arbeit fanden, grösstenteils qualifizierte Vorarbeiter aus dem benachbarten Ausland. Es gab also kein eigentliches Proletariat als Gesellschaftsschicht und auch eine Politisierung der Arbeiterschaft war somit nicht möglich. Erst mit der Gründung politischer Parteien 1918 kam es zur Mobilisierung der Arbeiter, zu einzelnen Demonstrationen und erst 1920 konnte sich ein fortdauernder Arbeitnehmerverband in Liechtenstein etablieren. Damit fehlte den Arbeitnehmern lange Zeit eine Lobby, die ihre Interessen vertreten hätte. Während in der Schweiz oder in Österreich die soziale Frage im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts heftig debattiert wurde, begann sie sich in Liechtenstein zeitgleich gerade erst zu stellen.Die Vergabe neuer Gesetzesentwürfe und Gutachten an schweizerische Experten in den frühen 1920er Jahren zeigt einerseits den wachsenden Einfluss der Schweiz auf die Ausgestaltung der Sozialversicherungen in Liechtenstein und andererseits eine allmählich einsetzende Professionalisierung und Verwissenschaftlichung. Dem Kleinstaat Liechtenstein fehlten die personellen Ressourcen und das nötige Wissen und so bedurfte er für den Aufbau eines funktionierenden Krankenversicherungswesens stets der Unterstützung von aussen. Zugleich mit dem damit festgestellten Mangel zeigt sich eine auch in der späteren Zeit immer wieder wirkungsvoll angewandte Figur, nämlich dass Liechtenstein Aufgaben, die es selbst nicht bewältigen konnte, erfolgreich auslagerte.In den 1920er Jahren kam es zu einer ganzen Reihe von Vorstössen in der Sozialgesetzgebung. Allerdings war die Zwischenkriegszeit mit einer Vielzahl wirtschaftlicher und verschiedenen innenpolitischen Krisen in Liechtenstein denkbar ungünstig für weitere Sozialversicherungsmassnahmen. Damit fehlten dem Staat auch die Möglichkeiten sozialpolitisch wirkungsvolle Massnahmen zu ergreifen. In diesem Sinne war auch der Aufschwung der privaten Versicherungen unter Einbezug schweizerischer Versicherungen eine Chance für Liechtenstein. Wo von staatlicher Seite kaum eine Ausweitung der Krankenversicherung möglich war, konnten die privaten Versicherungen im neu entbrannten Konkurrenzkampf eine Vielzahl neuer Mitglieder gewinnen. Mit dem erfolgreichen Wechsel an die Seite der Schweiz bedurfte es noch einer längeren Zeitdauer und viel Aufwand, um vom geltenden Versicherungsobligatorium für wenige Fabrikarbeiter bis zu einem Obligatorium für die gesamte Wohnbevölkerung zu gelangen. Und so sollte sich in Bezug auf die Krankenversicherung in Liechtenstein eine Bemerkung bewahrheiten, die der als Gutachter zu einer Sozialversicherungsreform eingesetzte Schweizer Hermann Renfer bereits 1922 in seinem Begleitschreiben an die Regierung anbrachte: „Gut Ding will Weile haben und die Durchführung der Sozialversicherung kostet Geld, viel Geld, das sind die beiden Hauptgesichtspunkte.“
Advisors: | Lengwiler, Martin |
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Faculties and Departments: | 04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Bereich Neuere und Neueste Geschichte > Neuere Allgemeine Geschichte (Lengwiler) |
UniBasel Contributors: | Lengwiler, Martin |
Item Type: | Thesis |
Thesis Subtype: | Master Thesis |
Thesis no: | UNSPECIFIED |
Thesis status: | Complete |
Last Modified: | 05 Apr 2018 17:40 |
Deposited On: | 06 Feb 2018 11:30 |
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