edoc

Subjektive Wahrnehmungen und Lebensperspektiven im Stalinismus. Vergleich zweier Tagebücher

Stuker, Ingrid. Subjektive Wahrnehmungen und Lebensperspektiven im Stalinismus. Vergleich zweier Tagebücher. 2007, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

Full text not available from this repository.

Official URL: https://edoc.unibas.ch/60662/

Downloads: Statistics Overview

Abstract

„Warum sagt heute keiner offen und geradeheraus, dass die Bolschewisten allesamt Unmenschen sind? Was für ein Recht haben sie, so grausam und so willkürlich mit dem Land und den Menschen umzuspringen, so dreist im Namen des Volkes ungeheuerliche Gesetze zu erlassen, so zu lügen und sich dabei hinter den mittlerweile völlig sinnentleerten grossen Worten ‚Sozialismus’ und ‚Kommunismus’ zu verstecken?“ (Nina Lugowskaja)„In der letzten Zeit habe ich gemerkt, dass ich zu weit denke. Meine Einstellung zum Leben ist zu realistisch. [...] Ich bin zu scharfsichtig und sehe sehr viele gewaltige Missstände, die ich besser nicht sehen sollte.“ (Stepan Podlubnyj)
Oben zitierte Aussagen stammen aus zwei Tagebüchern, die in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, während der Stalinzeit, entstanden sind. Es sind die Tagebücher von Nina Lugowskaja und Stepan Podlubnyj. Nina wird 1918 geboren und lebt mit ihrer Familie in Moskau. Ihre Familie sympathisiert mit den linken Sozialrevolutionären und pflegt einen bürgerlichen Lebensstil. Durch Hausdurchsuchungen, Verhaftungen und Deportationen bedroht, bestimmt der Hass auf Stalin und das Regime ihren Alltag. Nina beschreibt in ihren Tagebüchern, die die Zeitspanne von Oktober 1932 bis Januar 1937 umfassen, die Ereignisse dieser Jahre. Daneben wird aber auch die kleinräumige Welt einer Jugendlichen sichtbar, die mit den Irrungen und Wirrungen des Heranwachsens kämpft. Ihre Themen sind die Liebe, das Unverständnis der Eltern und ihr Äusseres. Die Tagebücher werden bei ihrer Verhaftung entdeckt und gegen sie verwendet. Sie kommt fünf Jahre in ein Arbeitslager, wird 1942 freigelassen, heiratet und wird 1963 rehabilitiert. Sie stirbt 1993. Nina Lugowskaja hat die Veröffentlichung ihrer Tagebücher nicht erlebt. Stepan Podlubnyj wird 1914 in einem Dorf in der Nähe von Kiev geboren. Er und seine Familie werden als „Kulaken“ enteignet und diskriminiert. Nachdem der Vater deportiert wird, lebt Stepan mit seiner Mutter mit falschen Papieren in Moskau. Anders als seine Eltern, bejaht Stepan aber das Regime. Sein Alltag ist beherrscht von der Angst aufzufliegen und von den Bemühungen, ein guter Sowjetbürger, ein Neuer Mensch, zu werden. Von Mai 1931 bis Oktober 1939 führt er sein Tagebuch. Er wird aufgrund von Spekulationen verurteilt und kommt in ein Arbeitslager. 1941 wird er wieder freigelassen. Nach Kriegsende heiratet er und arbeitet später an der Herausgabe seines Tagebuchs mit. Er stirbt 1998.Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die beiden Lebenswelten von Nina und Stepan. Es interessiert hier, wie der Alltag unter einem repressiven System wie dem Stalinismus erlebt wurde. Welche Sorgen hatten die Menschen? Welche Träume? Wie stark spürten sie die Willkür des Staates? Kurz: Wie stark war der Alltag durch den Terror geprägt und wie gingen Nina und Stepan damit um? Es soll exemplarisch gezeigt werden, wie die damalige Wirklichkeit konkret erfahren wurde, wie Nina und Stepan selbst die Wirklichkeit formten und für sich einen Sinn konstruierten, ohne den das Leben existenzbedrohend wäre. Es geht um ihre Identitätsfindung und -stabilisierung im damaligen Diskurs der Gesellschaft. Der Vergleich der beiden Tagebücher soll die Vielfalt der historischen Möglichkeiten aufzeigen und damit einer pauschalisierten Deutung von Geschichte entgegenwirken. Gerade weil die Lebenswelten im Mittelpunkt stehen, wird auch versucht, diese Mikroebene mit der Makroebene zu verknüpfen. Die Geschichte von Nina und Stepan steht nicht isoliert da, sondern im Kontext des Systems und der Strukturen der Gesellschaft. Dass gerade die Verknüpfung der Mikro- und Makrogeschichte möglich und notwendig ist, soll diese Arbeit zeigen.Die Analyse erfolgt nach verschiedenen Kriterien, da es sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in den Wahrnehmungen und Reaktionen von Nina und Stepan gibt. Diese Unterschiede hängen wesentlich von der Herkunft und der familiären Situation ab. Sowohl Nina als auch Stepan sind stark von ihren Vätern geprägt. Nina übernimmt von ihrem Vater die Ablehnung des Systems und äussert sich dahingehend unmissverständlich. Sie hasst die Bolschewisten. Stepan hingegen stürzt sich förmlich in die Überzeugungen des politischen Systems. Zum einen, weil er sich so von seinem Vater distanzieren kann, den er als Tyrannen wahrnimmt, zum anderen, weil er von den Zielsetzungen des Sozialismus begeistert ist. Logisch ist daher Stepans Bejahung des Neuen Menschen, dieses Menschen, der durch eisernen Willen immer höher und höher schreitet, sich lästiger und hindernder Gefühle entledigt und aus eigener Kraft über sich hinauswächst und somit konsequenterweise der neuen Gesellschaft dient. Gerade weil Stepan das „Kainsmal“ eines Kulaken anhaftet, versucht er mit aller Kraft diesem Ideal zu entsprechen. Dass solch hohen Anforderungen nicht genügt werden kann, liegt auf der Hand. Folglich scheitert Stepan daran und verzweifelt. Nina hingegen sagt der Neue Mensch nichts. Sie muss sich aber mit der damaligen Diskussion über die Emanzipation der Frau auseinandersetzen. Da sich im Stalinismus die Frau sowohl als Arbeiterin als auch als Mutter auszeichnen sollte, war das Resultat meist eine Doppel- und Dreifachbelastung der Frau. Darüber hinaus blieb das Männliche das Massgebende und ein wirkliches Umdenken fand nicht statt. Zudem erlebt Nina selbst in der Familie die Geringschätzung, der sie als Frau auch vom Vater ausgesetzt ist. Nina rebelliert zwar, sieht aber keine Alternative. Sie kann nicht ausbrechen, zumal ihre Mutter sich diesen Anforderungen fügt und ihr somit keine neue Perspektive aufzeigen kann. In dieser Hinsicht leiden beide unter dem Diskurs der Zeit und können ihm nicht entfliehen. Während aber Nina sich wenigstens offen auflehnen kann, und erkennt, dass hier eine Ungerechtigkeit herrscht, verzweifelt Stepan im Stillen ob seiner Unfähigkeit. Es gibt aber auch Momente, die beide mit Enthusiasmus erleben. Im Zusammenhang mit dem Aufbau der neuen Gesellschaft demonstrierte Stalin mit Grossprojekten wie zum Beispiel der Moskauer Metro und dem Dnepr-Staudamm die Leistungsfähigkeit des Landes sowie die Illusion, dass die Schwierigkeiten der Lebensverhältnisse bald überwunden sein würden. Stepan ist fasziniert. Auch die sowjetische Luftfahrt, die „Stalinfalken“, begeistern ihn. Dieser Faszination kann sich Nina ebenfalls nicht entziehen. Auch sie teilt den Fliegermythos, verliert dabei aber nicht ihre kritische Reflexion und erkennt sehr wohl hinter den Grossprojekten eine „Grosstuerei“.Ein ganz grosser Teil der Tagebücher spiegelt den immer grösser werdenden Terror Stalins, den „grossen Terror“. Nina wie Stepan leiden unter Hausdurchsuchungen, Denunziationen und Verhaftungen. Beide erleben die absurde und so gefährliche Jagd nach „Sündenböcken“. Ihre Reaktion darauf ist aber gänzlich unterschiedlich. Nina durchschaut die Vorgehensweise des Regimes und erkennt immerhin die Konsequenz des Staates, durch diesen systematischen Terror die Bevölkerung soweit zu instrumentalisieren, dass sie ihm wieder in die Hände spielt. Das zeigt sich wiederum bei Stepan, der zwar die Verhaftung seiner Mutter absurd findet und keinerlei Verständnis dafür aufbringen kann, gleichzeitig aber eine Erklärung dafür sucht und schliesslich zum Schluss kommt, „irgendetwas müsse dran sein“. Diese Logik teilt er mit vielen anderen, die aus Selbstschutz nach wie vor nicht glauben wollten oder konnten, dass die Verhaftungen völlig willkürlich waren. In diesem Zusammenhang ist es nachvollziehbar, dass beide, Nina wie Stepan, Sinnkrisen durchleben. Die Willkür und Brutalität des Systems, die Abwendung von den ursprünglichen Zielen der Sowjetunion, die Perspektivlosigkeit lassen beide in eine Lethargie fallen. Nina reagiert überdies mit einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Stepan entwickelt in seiner Verzweiflung eine „doppelte Identität“ – eine öffentliche, jene, die erlaubt ist, und eine private, obwohl er das nicht will. Er entwickelt aber eine zähe Durchhaltekraft, weil er sehen will, „was weiter wird“. Stepan wie Nina haben einen Überlebenswillen, der mitunter dafür verantwortlich ist, dass das System trotz allem nicht zusammenbricht. Abschliessend kann gesagt werden, dass die Analyse der Tagebücher von Nina Lugowskaja und Stepan Podlubnyj aufgezeigt hat, dass es keine einfachen oder gar pauschalen Erklärungen gibt, die Aufschluss darüber geben, wie die Menschen unter einem repressiven System wie dem Stalinismus sowohl das System selbst als auch den Alltag wahrgenommen haben und wie sie damit umgegangen sind. Die Analyse macht auch deutlich, dass die beiden untersuchten Lebenswelten von Nina und Stepan mit den herrschenden Normen und Wertesystemen zusammenhängen. In einem anderen System als dem Stalinismus hätten die Lebenswelten zum Teil anders ausgesehen. Ohne die Revolution mit ihren weit reichenden Veränderungen für die Gesellschaft hätten Nina und Stepan mit Sicherheit einen anderen Weg eingeschlagen, sei es nun zwangsläufig durch die vom System gegebenen Möglichkeiten oder aus eigener Interpretation dieser Möglichkeiten. Stepan nimmt vor allem die offiziell propagierte Wirklichkeit wahr und hält an den vorgegebenen Denk- und Handlungsmustern fest. Durch sein Handeln prägt er seinerseits die Wirklichkeit in einer Weise, die die offizielle Doktrin untermauert. Und diese Wirklichkeit ist nicht nur geprägt von Gewalt. Stepan identifiziert sich, wie viele andere auch, mit dem Ziel, Russland aus der Rückständigkeit zu befreien. Diese Aufgabe löste viel Enthusiasmus aus, ohne den vieles nicht zustande gekommen wäre. Nur hatte alles auch eine Kehrseite.Stepan nimmt schliesslich jene Wirklichkeit wahr, die es weder offiziell noch bei ihm selbst geben darf. Die Diskrepanz zwischen Schein und Sein bleibt ihm nicht verborgen. Durch seine negative Haltung sich selbst und durch die positive Haltung dem System gegenüber entsteht bei ihm lange Zeit überhaupt keine Kritik. Erst als die Zustände immer unhaltbarer werden, kann auch Stepan die Augen nicht mehr verschliessen. Dennoch sucht er gerade da, wo es am unverständlichsten ist, eine Erklärung, nämlich bei der Verhaftung seiner Mutter. Er sucht nach einer Logik, weil er die Willkür des Staates, insbesondere Stalins, nicht glauben kann und will. Aus Angst, das eigene Weltbild könnte zusammenfallen, arrangierte man sich mit dem System und dachte, nicht Stalin sei verantwortlich, sondern seine unfähigen Leute. Im konkreten Fall von Stepan heisst das, dass er die Verhaftung der Mutter zwar nicht versteht, sie aber irgendwie rechtfertigen kann. Wie so viele begibt sich Stepan unter das „schützende“ System und trägt dadurch wiederum zu dessen Aufrechterhaltung bei.Ninas Wahrnehmung der offiziellen Wirklichkeit ist eine andere. Nina reflektiert gnadenlos die Diskrepanz zwischen Sein und Schein. Sie lässt sich durch die Propaganda und den öffentlichen Diskurs nicht überzeugen. Ihre Interpretation dieser Wirklichkeit ist eine andere als die von Stepan. Nina kann zwar nicht offiziell sagen, was sie denkt, sie kann aber auf ihre familiäre Lebenswelt zurückgreifen, die es ihr ermöglicht, wenigstens privat offen und frei zu reden. Ninas Reaktion ist der Versuch, sich den Ansprüchen des Regimes so weit wie möglich zu entziehen und sich nicht völlig „verbiegen“ zu lassen. Dies führt uns zwangsläufig zur Frage: Was genau ist nun die Ursache, den einen oder anderen Weg einzuschlagen? Es kann nicht nur das gewalttätige Regime sein. Menschen wie Nina beweisen, dass es auch unter solchen Umständen möglich ist, kritisch zu bleiben. Es spielen sicher verschiedene Faktoren eine Rolle. Wie oben bereits erwähnt, wären die Schicksale von Nina und Stepan unter einem anderen System wahrscheinlich anders verlaufen. So sind sicher die äusseren Umstände wie die Familie, die Arbeit, die Schule usw. Faktoren. Aber es ist zu einem grossen Teil auch das individuelle Gewissen, welches das eigene Handeln prägt, denn das individuelle Gewissen ist weitgehend unabhängig vom jeweiligen politischen System. Es ist dieses Gewissen, welches Nina hilft, eine eigene Meinung ungeachtet des offiziellen Kanons, z.B. beim Mord an Kirow und seinen Folgen, zu bilden. Und es ist dieses Gewissen, welches Stepan in immer tiefere Selbstzweifel zwingt, weil die Kluft zwischen dem angestrebten Ideal des Neuen Menschen und der Wirklichkeit immer grösser wird. Nina und Stepan offenbaren uns zwei Lebensentwürfe, wie sie unter Stalin möglich waren. Es zeigt sich, dass der immer wieder beschworene Gegensatz zwischen Mikro- und Makrogeschichte bei der angewandten lebensweltlichen Perspektive nicht besteht und dass diese bei Fragen, wie die Arbeit sie stellt, mögliche Antworten bieten kann. Der Blick der Akteurin und des Akteurs auf sich selbst und auf andere ermöglicht Aussagen über deren oder dessen Selbstverständnis.  
links: Nina Lugowskaja im Alter von elf Jahren
rechts: Stepan Podlubnyj 1931. Dieses Foto erschien auch in der Betriebszeitung "Pravdist" anlässlich einer Prämierung Podlubnyjs als Bestarbeiter ("Pravdist" 29.11.1931).
Advisors:Haumann, Heiko
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Osteuropäische und neuere Geschichte (Haumann)
UniBasel Contributors:Haumann, Heiko
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:39
Deposited On:06 Feb 2018 11:29

Repository Staff Only: item control page