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Leben im katholischen Milieu Luzerns während des Zweiten Weltkrieges. Das Ehepaar Annemarie und Xaver Schnieper-Müller im Spannungsfeld von Krieg, Konfessionalität und Distanzierung vom Milieu

Sacher, Sandra. Leben im katholischen Milieu Luzerns während des Zweiten Weltkrieges. Das Ehepaar Annemarie und Xaver Schnieper-Müller im Spannungsfeld von Krieg, Konfessionalität und Distanzierung vom Milieu. 2009, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Official URL: https://edoc.unibas.ch/60538/

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Abstract

Am Anfang meiner Lizentiatsarbeit zum Leben im katholischen Milieu in Luzern stand die Frage nach den familien- und geschlechterspezifischen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges von Katholikinnen und Katholiken in der Schweiz. Anhand der im Staatsarchiv Luzern aufgefundenen Briefe von Annemarie und Xaver Schnieper-Müller sollte die Auseinandersetzung mit diesen Fragen das Hauptaugenmerk der Arbeit bilden. Die Briefe der beiden Eheleute schufen aber ein dermassen dichtes und interessantes Quellenmaterial, dass bald einmal die Lebensgeschichten der beiden sehr religiösen Menschen in den Mittelpunkt meines Interesses rückten. Erstes Ziel dieser Arbeit war es daher, anhand der Briefe von Annemarie und Xaver Schnieper-Müller die Biografien der beiden Eheleute darzulegen – wie die Religiosität während des Studiums ein wichtiger Teil ihrer Persönlichkeit wurde, wie sich gleichzeitig aber auch erste Distanzierungen vom katholischen Milieu und dessen Organisationen bemerkbar machten – um schliesslich möglichst genau den Alltag des Paares während der ersten Phase des Zweiten Weltkrieges nachzuzeichnen und analysieren zu können.
Die Biografien
Anhand Xaver Schniepers biografischer Aufzeichnungen, aus Einträgen seines Tagebuchs, aber auch durch zahlreiche Bemerkungen in seinen Briefen an Annemarie, konnten Einzelheiten seiner Kinder- und Jungendjahre relativ detailliert rekonstruiert werden. Geboren am 6. Januar 1910, wuchs Xaver Schnieper als ältester Sohn neben zwei Schwestern und einem Bruder in Emmen im Kanton Luzern auf. Sein Vater, der einer Bauernfamilie entstammte, arbeitete als Oberschreiber am Justizdepartement und war von 1918 bis 1942 katholisch-konservativer Regierungsrat des Kantons Luzern. Da dieser meist ganztags in seinem Büro in der Stadt arbeitete, übernahm vornehmlich die Mutter die Erziehung der vier Kinder. Die Mutter, die vor der Heirat als Lehrerin tätig war, erzog ihre Kinder enorm streng. Dies führte dazu, dass sich Xaver von seiner Mutter sehr fürchtete. Die Mutter starb, als Xaver 10 Jahre alt war – ihre Schwester heiratete bald darauf seinen Vater. Seine Jugendjahre bezeichnete er als die schrecklichsten Jahre seiner Erziehung. Auch von seiner «neuen» Mutter erhielt Xaver die ersehnte Liebe nicht – seine Schilderungen weisen auf eine Frau mit strengen, kleinlich-religiösen und gar seelenlosen Charakterzügen hin. Mit seinem Eintritt ins Stanser Kollegium konnte Xaver erstmals seinem Elternhaus entfliehen. Bereits damals zeigte sich seine später genauer ausformulierte Vorstellung von Religion, die den Glauben als etwas Privates, Inneres ansieht und nicht auf der Erfüllung blosser Rituale beruht, sondern die persönliche Beziehung zu Gott betont. Gleichzeitig wird klar, dass die Religion und der Glaube an sich etwas sehr wichtiges für Xaver gewesen wären, er aber kein Umfeld fand, das ihn in seiner persönlichen Identitätsfindung und Glaubensentwicklung unterstützt hätte.
Annemarie Schnieper-Müller wurde am 23. Februar des Jahres 1912 geboren, wuchs in einer Kaufmannsfamilie im katholischen Wirtschaftsbürgertum in Bochum auf und besuchte bis 1930 die katholischen Schulen ihrer Heimatstadt. Nach ihrem Schulabschluss ging sie zunächst für eine unbestimmte Dauer zwecks eines Sprachaufenthalts zu den «Soers de Marie Immaculée» nach Paris, danach für kurze Zeit an die Universität nach Königsberg, bevor sie im Herbst 1931 in Bonn ihr Studium der Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft aufnahm. Ihr Vater Friedrich entstammte einer Kaufmannsfamilie aus Köln und führte seit 1906 gemeinsam mit seiner Frau Anna, Tochter des Bürgermeisters Wilhelm Friedrich Frans der ostpreussischen Stadt Wormditt, die Firma AGEBO in Bochum, die nach eigener Rezeptur Haushaltschemikalien wie beispielsweise Waschmittel oder Bodenwachs herstellte. Die Einnahmen der Firma, in der auch die Mutter Annemaries aktiv mitarbeitete, ermöglichte der Familie einen relativ hohen Lebensstandard, der sich beispielsweise darin äusserte, dass die Familie öfters im Jahr verreiste, häufig auswärts speiste, beinahe täglich einen Kino oder Theaterbesuch unternahm und in den frühen dreissiger Jahren ein eigenes Auto besass. Die Bürgerlichkeit der Familie Müller ist dementsprechend – neben ihrer Religiosität – ein wichtiges Faktum in der Biografie Annemarie Schnieper-Müllers.
Für die Jahre während ihres Studiums konnte herausgearbeitet werden, dass einerseits die Belebung des christlichen Glaubens für die beiden sehr wichtig war, andererseits eine starke Politisierung stattgefunden hat. Die Religiosität prägte insbesondere Annemaries Leben nach dem Sommer 1932 in grossem Mass, sie bildete ihre Tagesstruktur, ihren Lebensmittelpunkt, aber durch Gebete auch ihre Form der Kommunikation mit ihrem fernen Geliebten Xaver. Die Gebete bildeten in diesem Sinne eine Art legitimen Rahmen für das Denken an die andere Person. Die Religion wurde aber auch zum Ausgangspunkt der Hinterfragung ihrer Beziehung zu Xaver, was in ihrem Leben zu sehr grossen Unsicherheiten führte, da sich in ihr, durch die intensive Beschäftigung mit Gott, der Wunsch zu regen begann, in ein Kloster einzutreten. Xaver hingegen konnte nach seiner Gymnasialzeit in einem Innerschweizer Kloster den Glauben während des Studiums zum ersten Mal in seinem Leben so ausleben, wie er sich dies vorgestellt hatte. Gespräche mit verschiedenen Geistlichen an seinen unterschiedlichen Studienorten wurden sehr zentral und prägten ihn enorm. Auch bei ihm führte die neu erlebte Religiosität so weit, dass er den Wunsch in ein Kloster einzutreten äusserte. Zugleich führten die politischen Verhältnisse, wie sie die beiden während eines gemeinsamen Austauschjahres 1933 in Berlin erlebt hatten, dazu, dass sich das Paar für Politik zu interessieren begann. In Berlin wurde ihre Haltung gegen den Nationalsozialismus deutlich negativ geprägt, allerdings wurden dabei auch erste Enttäuschungen über die katholisch-konservative Partei laut, zu der sich die beiden damals noch klar bekannten. Der Studienaufenthalt in Wien prägte insbesondere Xaver in seiner Haltung zum schweizerischen Staatswesen. Dies liess sich zwar nicht anhand von Briefen nachzeichnen, seine politische Aktivität nach dem Studium, als er zurück in Luzern kurzum die Zeitschrift «Die christliche Entscheidung» gründete, welche sich klar gegen den Staat und gegen die katholisch-konservative Partei richtete, zeigt jedoch, wie sehr sich Xaver in dieser Zeit verändert hatte. In der «Entscheidung» setzte er sich klar für einen Staat christlicher Prägung ein, für den Einbezug der Arbeiter in den Staat und insbesondere gegen eine allzu autoritäre Staatsführung. Mit seiner angriffigen Haltung gegen die beiden wichtigsten Säulen des katholischen Milieus, die katholisch-konservative Partei und den Organisationskatholizismus, aber auch gegen die Kirche und ihre Vermittlungspraxis des Evangeliums, positionierte sich Xaver Schnieper gleichzeitig deutlich ausserhalb der katholischen Subgesellschaft.
Mit ihrer Lebensgestaltung vor und während des Krieges entsprachen Annemarie und Xaver Schnieper-Müller denn auch nicht den Vorstellungen von milieukonformen Katholiken. Der Glaube war sicherlich immer noch ein wichtiger Faktor in ihrem Leben, dennoch war er nicht mehr derart zentral wie in der Zeit ihres Studiums. Die Schniepers waren sicherlich keine typische katholische Familie, insbesondere was das katholische Frauenideal anbelangt. Annemarie bekundete seit dem Beginn ihrer Beziehung Mühe mit dem traditionellen Frauenbild. Sie führte ein relativ autonomes, mit Xaver gleichgestelltes Leben. Annemarie arbeitete neben ihren Mutterpflichten nach der Geburt ihres Sohnes 1941 im Verkehrsbüro in Luzern, trotzdem dies im katholischen Milieu nicht gerne gesehen wurde. Zudem hielt sie während und nach dem Krieg Vorträge, deren Inhalte eher auf feministische Inhalte hinweisen, was wiederum keineswegs den milieuinternen Frauenvorstellungen entsprach, insbesondere nicht in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, als eine sehr konservative Haltung zur Rolle der Frau allgemein eingenommen worden ist.
Das Leben während der Trennung durch den Zweiten Weltkrieg
Die Briefe während des ersten Kriegsjahres zeugen von alltäglichen Begebenheiten, Sorgen und Ängsten, aber auch von schönen Augenblicken. Während des Krieges, in der Abwesenheit Xavers, lebte Annemarie eng mit ihrem gemeinsamen Freund, dem Österreicher Franz Wallner, zusammen. Dies wurde von ihren Nachbarn im katholischen Milieu Luzerns öffentlich als «ehebrecherisch» diskreditiert und bildete sicherlich ein wichtiges Problemfeld für Annemarie während der ersten Kriegsmonate. Gewiss war es nicht einfach für Annemarie, monatelang ohne ihren Ehemann leben zu müssen. Dennoch war sie nie alleine, sondern entweder mit Franz Wallner oder anderen Freundinnen und Freunden zusammen und da diese vornehmlich aus dem Kreis des Nachrichtendienstes stammten, war sie auch stets gut, und damit oft sogar besser als Xaver, über den Krieg und dessen Verlauf informiert. Die Abwesenheit ihres Mannes bildete für sie keine derart grossen Probleme, wie dies beispielsweise in bäuerlichen Familien der Fall gewesen war. Dies soll die Situation Annemaries allerdings nicht diskreditieren. Sie hatte gleichwohl mit dem haushälterischen Verwalten des Familieneinkommens zu kämpfen, das glücklicherweise von Xavers Arbeitgeber weiterhin, wenn auch in gekürzter Form, gewährleistet worden ist. In diesem Sinne war das Paar von vielen Problemen verschont geblieben, konnte sich aber gerade deshalb auch für ihre schlechter gestellten Freunde und Verwandte in den vom Krieg betroffenen Ländern engagieren. Hier nahm auch ihr christlicher Glaube eine wichtige Funktion ein – einerseits um ihre Hilflosigkeit gegenüber der Situation zu überbrücken, andererseits um für die Menschen in Notlage beten zu können und damit um ihre christliche Solidarität, zu der sie sich verpflichtet sahen, auszudrücken. Ansonsten schien gerade Annemarie während des Krieges ein relativ normales Leben in Luzern geführt zu haben, in dem Kino- und Cafébesuche weiterhin ihre Stellung einnahmen. Dies erstaunt doch, wenn man bedenkt, dass ihre gesamte Familie in Deutschland lebte.Xaver Schnieper erlebte den Krieg als Unteroffizier, was seine Sicht auf die Situation enorm prägte und in seinen Briefen und Texten ein ambivalentes Bild hervorrief. Denn einerseits erlebte er die Dinge aus der Sicht des Soldaten – Kameradschaft, Pflichterfüllung, unbedingter Gehorsam – aber auch aus der Perspektive des Vorgesetzten, was vor allem mit diversen Bequemlichkeiten verbunden war. Was in seinen Briefen immer wieder thematisiert wurde, ist die Verdrängung von Sorgen und Problemen des Zivillebens. Xaver sah sich als Teilhaber einer völlig anderen Welt als der zivilen, weiblich konnotierten Alltagswelt ausserhalb des Militärs. In dieser Welt ging er völlig auf, in dieser Welt wurde ihm Verantwortung, Denken und Urteilen abgenommen, in dieser Welt wurde er zum reinen Befehlsempfänger. Dies steht im völligen Kontrast zu seinem Leben und seinen Haltungen vor dem Krieg, wo er sich stets in Opposition zur gängigen Meinung gestellt hatte. In diesem Sinne rückte auch die Religiosität in den Hintergrund, an ihre Stelle trat der Patriotismus, ein Glaube an das Vaterland und dessen Weiterbestehen, das dem möglichen Sterben Sinn verschuf. Die Religiosität und insbesondere die damit verbundenen Gebete wurden in der Kriegszeit, anders als während des Studiums, auch nicht mehr als Kommunikationsmedium verwendet – schliesslich wurden die an die andere Person gehegten Gedanken durch die Ehe auch legitimiert.Der im Krieg entfachte Patriotismus liess Xaver Schnieper allerdings nicht in den Schoss der katholisch-konservativen Partei zurückfinden – im Gegenteil: er brach 1945 völlig mit dem Milieu und dessen Substruktur durch den Eintritt in die Partei der Arbeit. Was diesen Schritt jedoch letztendlich ausgelöst hat, lässt sich anhand des vorhandenen Materials leider nicht nachvollziehen.
Advisors:Mooser, Josef
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Neuere Allgemeine Geschichte (Mooser)
UniBasel Contributors:Mooser, Josef
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:39
Deposited On:06 Feb 2018 11:28

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