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Die Beziehungen der Schweiz zu Argentinien während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 - Norm und Praxis der schweizerischen Aussenpolitik. Unter besonderer Berücksichtigung der Menschenrechtspolitik

Nussio, Enzo. Die Beziehungen der Schweiz zu Argentinien während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 - Norm und Praxis der schweizerischen Aussenpolitik. Unter besonderer Berücksichtigung der Menschenrechtspolitik. 2005, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Official URL: https://edoc.unibas.ch/60450/

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Abstract

Es ist kein Zufall, dass der amtierende Staatspräsident Argentiniens, Néstor Kirchner, von Schweizer Einwanderern abstammt. In keinem anderen Land Lateinamerikas findet man eine derart grosse helvetische Kolonie. Über 10'000 Schweizer, meist Doppelbürger, wohnen in dem Staat zwischen dem atlantischen Ozean und den Anden. Nebst der ständigen Schweizer Bevölkerung bestehen auch weitere, vor allem wirtschaftliche Interessen, die Argentinien zu einer wichtigen Adresse für die Schweiz und ihre Aussenpolitik machen.
Gegenstand der Untersuchung sind die Beziehungen zwischen der Schweiz und Argentinien, wobei auf die Zeit der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 fokussiert wird. Diese Periode stellt für die schweizerische Aussenpolitik eine besondere Herausforderung dar, denn die Militärjunta geht mit brutaler Repression gegen Oppositionelle vor. Das aussenpolitische Ziel der Durchsetzung der Menschenrechte gerät so in Konflikt mit dem Ziel der wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
Die Normen der Aussenpolitik, das heisst die Zielsetzungen und rechtlichen Grundlagen, stehen in der Praxis oft in Konflikt zueinander. Um diese Konflikte zu lösen, muss zwischen den verschiedenen Interessen abgewogen werden. In der Praxis werden so die Prioritäten der schweizerischen Aussenpolitik sichtbar. Die vorliegende Arbeit stellt die Frage, wie die Entscheidungsträger die aussenpolitischen Interessen in der Praxis gewichten. Die Normen sind zwar eine gültige Handlungsanweisung an die aussenpolitischen Akteure, zeigen aber erst in der Praxis ihr wahres Gewicht. Aus diesem Grund ist es nötig, die gültige Norm an der Praxis zu messen. Die Erkenntnisse, die der Fall Argentinien bloss legt, sind unter der Voraussetzung, dass die schweizerische Aussenpolitik grundsätzlich konsistent ist, verallgemeinerbar.
Die "Theorie der internationalen Politik" von Hans Joachim Morgenthau gibt der hier angewandten Methode des Vergleichs zwischen Norm und Praxis einen theoretischen Rückhalt. Morgenthau ist der Ansicht, dass nur eine empirisch-geschichtliche Untersuchung des politischen Handelns Aufschluss über die aussenpolitischen Interessen eines souveränen Staates liefern kann.
Um die Beziehungen der Schweiz zu Argentinien in einen grösseren Zusammenhang zu stellen, wird kurz auf die geschichtlichen Entwicklungen der beiden Staaten in den betreffenden Jahren eingegangen. Während sich Argentinien durch massive Menschenrechtsverletzungen und Kapitalkonzentration kennzeichnet, wirkt in der Schweiz der gesellschaftliche Wandel der 60er Jahre nach und die Wirtschaft befindet sich nach der Erdölkrise erstmals seit langem wieder in einer Rezessionsphase.
Die Normen der schweizerischen Aussenpolitik sind als Grundlage des politischen Handelns von zentralem Interesse. Einerseits geht es dabei um die Maximen der Neutralität, Solidarität, Universalität und Disponibilität, die aus dem Unabhängigkeitsziel der Verfassung von 1874 abgeleitet werden können. Andererseits regelt die Rechtsordnung auf tieferer Stufe einzelne aussenpolitische Aktivitäten. Bei den Normen handelt es sich also nicht um abgehobene moralische Forderungen, sondern um auf die Praxis ausgerichtete Richtlinien. Die aussenpolitischen Normen werden insbesondere auf menschenrechtliche Aspekte hin abgesucht. Die bisweilen vagen Formulierungen der Richtlinien eröffnen ein Handlungsspektrum, das im konkreten Fall auf eine bestimmte Weise genutzt wird.
Wie ein Entscheidungsträger das von der Norm offen gelassene Handlungsspektrum nutzt, hängt auch von seiner Sicht der Realität, das heisst seinem Kenntnisstand, ab. Die Kenntnisse der Schweizer Behörden sind folglich von entscheidender Bedeutung für das konkrete politische Handeln. Die Schweizer Beamten sind bis Ende 1978 schlecht informiert über die Menschenrechtssituation in Argentinien. Sie sind den Aussagen der Militärjunta und der Menschenrechtsorganisationen ausgesetzt, die sich grösstenteils widersprechen und ein konfuses Bild der Zustände in Argentinien zeichnen. Ab Mitte 1979 kann aber kein Zweifel mehr über die Verantwortung der Militärregierung für die massiven Menschenrechtsverletzungen bestehen.
Das politische Handeln der Schweizer Akteure zeigt sich in der Praxis der schweizerischen Aussenpolitik in Bezug zu Argentinien während der Militärdiktatur. In einem ersten Teil werden dabei die allgemeinen, politisch-wirtschaftlichen Beziehungen dargestellt, die durch ein stetig wachsendes Handelsvolumen und einzelne wichtige Angelegenheiten wie den Fall Jaccard, die Verhandlungen um die Compañía Italo-argentina de Electricidad oder den Verkauf einer Schwerwasseranlage durch die Sulzer AG geprägt sind.
Während der Militärdiktatur interveniert die Schweiz mehrmals für Verschwundene und Verhaftete schweizerischer Herkunft sowie für ausländische Verfolgte, die eine Einreiseerlaubnis für die Schweiz erhalten haben. Der Erfolg der Schweizer Interventionen ist allerdings gering. Die sechs Schweizer Verschwundenen sind laut verschiedenen Zeugenaussagen vom argentinischen Repressionsapparat ermordet worden. Vor allem der Fall des chilenisch-schweizerischen Doppelbürgers Alexei Jaccard, der am 16. Mai 1977 in Buenos Aires verschwunden ist, verdient besondere Beachtung, da er als einziger zuvor in der Schweiz wohnhaft gewesen ist und nicht zusätzlich einen argentinischen Pass besitzt, der die Interventionsmöglichkeiten bei den argentinischen Behörden verringert.
Der Fall der Compañía Italo-argentina de Electricidad (CIAE), einer Elektrizitätsunternehmung in mehrheitlich schweizerischem Besitz, belastet die bilateralen Beziehungen über Jahre. Die Vorgängerregierung der Militärjunta unter Isabel Perón kündigt 1974 die Verstaatlichung der CIAE an. Die darauf folgenden Verhandlungen über die Entschädigungszahlungen an die hauptsächlich Schweizer Aktionäre führen nach fünfjährigem Ringen um einen zufrieden stellenden Kompromiss 1979 zu einer definitiven Lösung. Die zeitliche Nähe zum Fall Jaccard führt zu einem Interessenkonflikt für die Schweizer Behörden, denn für eine befriedigende Lösung des Falles CIAE ist es unerlässlich, ungetrübte Beziehungen mit der argentinischen Regierung zu unterhalten. Das Individualinteresse im Fall Jaccard steht dem allgemeineren wirtschaftlichen Interesse gegenüber.
Im Jahre 1980 unterzeichnet die argentinische Regierung einen Vertrag zur Zusammenarbeit mit der Schweizer Gebrüder Sulzer AG zum Bau einer Schwerwasseranlage für ein Kernkraftwerk. Vorausgegangen waren international beachtete Verhandlungen zwischen den helvetischen und argentinischen Behörden bezüglich der Sicherheitsbestimmungen des Exports. Vor allem die USA hatten versucht, den Handelsabschluss zu verhindern.
Eine Systematisierung der gewonnenen Erkenntnisse und die Einordnung der aussenpolitischen Prioritäten bilden den Schluss der vorliegenden Arbeit. Dabei wird nicht mit wertenden Kategorien gearbeitet, sondern versucht, anhand der untersuchten Praxis verallgemeinerbare Tendenzen festzustellen. In diesem Zusammenhang ist es schwierig mit den Konzepten der aussenpolitischen Zielsetzungen und Maximen – Unabhängigkeit, Neutralität, Solidarität, Universalität und Disponibilität – zu arbeiten, da in jedem der besprochenen Fälle verschiedene Zielsetzungen tangiert werden und nicht einfach eine Prioritätenliste erstellt werden kann.
Im Fall Argentiniens sind vor allem die Bereiche der Aussenwirtschafts- und Menschenrechtspolitik von Bedeutung; Bereiche, die auch im Verhältnis zu anderen Staaten zur Diskussion stehen. Zur Verallgemeinerung der untersuchten Fälle ist es angebracht, zwischen harten und weichen Faktoren der Aussenpolitik zu unterscheiden. Die harten Faktoren haben direkte, kurzfristige Konsequenzen auf das Leben im Inland. Die aussenwirtschaftlichen Interessen, welche sich am Ziel der inneren Wohlfahrt orientieren, zählen unzweifelhaft zu dieser Kategorie. Die weichen Faktoren beziehen sich dagegen auf indirekte, längerfristige Auswirkungen. Zu dieser Kategorie zählen die politischen Interessen wie beispielsweise die Durchsetzung der Menschenrechte als Konsequenz der Solidaritätsmaxime. Die harten Faktoren, das heisst in diesem Fall die aussenwirtschaftlichen Interessen, werden grundsätzlich höher eingestuft als die weichen Faktoren, welche den wirtschaftlichen Fortschritt unter Umständen kurzfristig bremsen.
Dokumente aus dem schweizerischen Bundesarchiv bilden die Quellenbasis der vorliegenden Arbeit. Bei den relevanten Dokumenten handelt es sich zu einem grossen Teil um die Korrespondenz zwischen der Berner Zentrale und den Auslandvertretungen. Dies erlaubt einen vertieften Einblick in die innerbehördlichen Aktivitäten, gibt der Sicht der Behörden aber gleichzeitig ein grosses Gewicht. Vergleichbare Quellen der argentinischen Seite werden nicht verwendet. Das nachgezeichnete Bild der bilateralen Beziehungen vervollständigt sich jedoch durch die Konsultation von Zeitungsartikeln und diversen, öffentlich zugänglichen Dokumenten argentinischer und schweizerischer Herkunft.
Es ist darauf hinzuweisen, dass in der vorliegenden Arbeit häufig von „den Behörden“ gesprochen und ihnen eine gemeinsame Praxis unterstellt wird, ohne auf die Auseinandersetzungen innerhalb der Behörden näher einzugehen. Die verschiedenen Teilinteressen, die eine Aussenpolitik bestimmen, sind schwierig zu entflechten. Die gesichteten Quellen geben zu wenig oder keinen Aufschluss über diesen Aspekt. Der Blickwinkel bleibt wegen der einseitigen schweizerischen Sicht auf die Ereignisse eingeschränkt. Argentinische und im Fall Jaccard auch chilenische Quellen würden zu einer ausgewogeneren Sicht führen. Ausserdem wäre es sinnvoll, die Tätigkeiten der privaten Akteure genauer zu untersuchen, arbeiten diese doch in verschiedenen Fällen sehr eng mit den Behördenvertretern zusammen.
Heute steht die Schweizer Aussenpolitik vor grundsätzlich neuen Bedingungen. Die internationale Politik hat sich seit den 70er Jahren wesentlich verändert. Die Schweiz hat auf diese Veränderungen beispielsweise mit dem Beitritt zur UNO und der Annäherung an die Europäische Union über den bilateralen Weg reagiert. Die zeitliche Nähe zu den Geschehnissen um die argentinische Militärdiktatur soll nicht den Eindruck erwecken, dass die aussenpolitischen Akteure heute in gleicher Weise auf eine derartige Herausforderung reagieren würden, wenngleich der schweizerischen Aussenpolitik eine gewisse Kontinuität inhärent ist.
Advisors:Kreis, Georg
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Neuere allgemeine Geschichte (Kreis)
UniBasel Contributors:Kreis, Georg
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:38
Deposited On:06 Feb 2018 11:27

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