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«... denen zu lieb / die das Meer noch nicht gesehen noch erfahren haben / welche nicht mehr / denn von dem halben theil der Welt zu reden wissen ...». Erlebnis, Wahrnehmung und Darstellung des Meeres in Reise- und Bordberichten des 16. Jahrhunderts

Hilfiker, Franziska. «... denen zu lieb / die das Meer noch nicht gesehen noch erfahren haben / welche nicht mehr / denn von dem halben theil der Welt zu reden wissen ...». Erlebnis, Wahrnehmung und Darstellung des Meeres in Reise- und Bordberichten des 16. Jahrhunderts. 2009, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Official URL: https://edoc.unibas.ch/60219/

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Abstract

Die im 16. Jahrhundert von Europa ausgehenden expansiven Bewegungen und Ereignisse − die Entdeckung fremder Gebiete, der Aufbau von Kolonien in der Neuen Welt sowie der Handel mit Plantagen an der Westküste Afrikas oder mit Inseln im Südmeer − setzten das Befahren der Meere voraus, haben sich also unter anderem über die Bewältigung ‚maritimer Passagen’ abgespielt. Die auf den Schiffen Reisenden kamen in Berührung mit der See und verfassten über die Seereise sowie über bis dahin in Europa unbekannte Regionen und deren Bewohner Berichte, welche in Europa zu zirkulieren begannen und bei den Daheimgebliebenen auf grosses Interesse stiessen. Es etablierten sich Reisebericht-Sammlungen wie die von Giovanni Ramusio, Richard Hakluyt und Theodor de Bry und dessen Söhnen. In der geschichtswissenschaftlichen Forschung ist es primär die Entdeckung und Erkundung neuer terrestrischer Gebiete und die Konfrontation der europäischen Reisenden mit Indigenen, die als zentrale Bestandteile der Reiseberichte bezogen auf Fragen nach Wahrnehmung und Darstellung den Fokus auf sich ziehen. Perzeption und Erfahrung von maritimen Räumen im Kontext der frühen Kolonialgeschichte sind in der Forschung bislang wenig diskutiert. Ausgehend von Anregungen aus der Literaturwissenschaft, einigen mentalitätsgeschichtlichen Arbeiten sowie Überlegungen aus den Diskussionen des spatial turn, rücke ich in meiner Lizentiatsarbeit das Meer ins Zentrum meiner Betrachtungen. Anhand von drei unterschiedlichen Reisen und den in ihrem Kontext entstandenen Reiseberichten, Bord- und Logbüchern, geht die Arbeit den Fragen nach, wie die See als Erfahrungsraum erlebt und wahrgenommen, welche Vorstellungen im Vorfeld der Expeditionen oder auch während der Reise selbst auf bestimmte Meeresorte projiziert und wie einem − zu einem grossen Teil meeresunerfahrenen − Rezipientenkreis das Fremde und Unbekannte der See vermittelt worden war. Im Zentrum der Untersuchung stehen drei bezüglich der durchschifften Meerengen und –passagen wie auch der Reisehintergründe stark unterschiedliche Berichte, was eine sehr vielschichtige und facettenreiche Untersuchung der Meereswahrnehmung erlaubt: 1) Die Schiffsreise des Calvinisten Jean de Léry über den Atlantik nach Brasilien und der dortigen französischen, protestantischen Kolonie Nicolas Durand de Villegagnons im Jahr 1556, 2) die 1578 unternommene dritte Expedition Martin Frobishers in die arktischen Gewässer um Meta Incognita (heutige Baffin Island) auf der Suche nach Gold und der Nordwestpassage, und 3) die Schifffahrt einer holländischen Flotte, die 1598 zu einer Weltumsegelung startete, jedoch an der ihnen unmöglichen Durchschiffung der stürmischen Magellanstrasse scheiterte.Ein erster Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, welche Perspektive auf das Meer durch Auftrag und Ziel der Reise sowie aufgrund persönlicher Reisehintergründe der Berichtschreiber bereits vor Antritt der Seefahrt festgelegt worden war. Darauf folgend wird der Bewältigung des Meeres im 16. Jahrhundert nachgegangen und dazu zeitgenössische Definitionen von Navigation − wie beispielsweise einem Text von John Dee oder William Bourne’s A Regiment for the Sea − und deren Implikationen mit den in den Reiseberichten dargestellten praktischen Erfahrungen von Orientierung auf See verglichen. Zudem wird auch nach der Raumrepräsentation, der schriftlichen Darstellbarkeit des Seeraums, gefragt. Es geht dabei um das narrative Erschliessen eines primär schwierig zu beschreibenden ‚leeren Raumes’. Dieser in den drei untersuchten Reiseberichten unterschiedlichen Umsetzung der schriftlichen Darstellung des Meeres geht der Mittelteil der Arbeit nach. Hier geht es um ganz spezifische Formen der Wahrnehmung und des Umgangs mit dem Meer: Versuchte Jean de Léry das Meer über die Beschreibung geschmacklicher Qualitäten der Fische und anderer Meeresbewohner erfahrbar zu machen und die Zentralität empirischen Meereserlebens zu betonen, um sich von den aus dem Hörensagen konstruierten Geschichten seines katholischen Konkurrenten André Thevet abzugrenzen, verzeichnet Barent Jansz − der Schiffsarzt und Berichtschreiber der holländischen Expedition − die Magellanstrasse und den Pazifik als Räume der Bilder und Symbole, indem er in Form einer narrativen Struktur, die ich als ‚Rhetorik der Hoffnung’ bezeichne, dem Negativ-Raum Fretum Magellanicum die Utopie einer paradiesisch konnotierten − doch unerreichbar bleibenden − Südsee entgegensetzt. Im Bericht des in der Flotte Frobishers mitsegelnden Kapitäns George Best begegnet das Eismeer um Meta Incognita dem Leser als kartografisch generierter Imaginationsraum. Die Suggerierung der Schiffbarkeit und Bewältigung der Meerenge durch die englische Flotte bleibt im zur Publikation bestimmten Bericht Bests stets hartnäckig aufrecht erhalten, auch wenn zugleich Bordjournale und Logbücher Schilderungen von fast durchwegs hilflosen, den Strömungen, Winden und Nebeln völlig ausgelieferten Navigationsmanövern im Packeis auf diese Bekräftigungsstrategie maritimer englischer Überlegenheit prallen lassen.Weiter verfolgt die Lizentiatsarbeit Anzeichen versuchter Aneignung des Meeres, welche die Reiseberichte vermitteln, und stösst dabei immer wieder auf den Aspekt des ‚fluiden’ Charakters des Wassers und eine Art ‚intrinsische Ungreifbarkeit’ des Meeres, welche die versuchte Besitzergreifung prägen. Gleichzeitig wird das Augenmerk darauf gerichtet, wie durch angeeignetes und verwertetes Wissen über das Meer sowie durch seine kulturell verbindliche ‚Kerbung’ (‚Kerbung’ in dem Sinne, wie sie zum Beispiel durch die Namensgebung von Buchten im Gebiet der Baffin Island und das Aufstellen von Gedenktafeln in der Magellanstrasse geschah) Machträume geschaffen wurden, und durch konkrete gewaltsame Auseinandersetzungen auf See, also in ausgetragenen Raumkämpfen, die Perzeption der See als eines (politischen, merkantilen, religiösen) Konkurrenzraums Präsenz bekam.Die Betrachtung des Schiffes, mit und in welchem das Meer überhaupt erst erfahren und wahrgenommen werden konnte, rückt weiter die Analyse eines sozial konstruierten Raumes ins Blickfeld. Die Bedeutung und Wertigkeit einer ganz klar vorgegebenen Ordnung an Bord, ihre Bedingtheit und Nützlichkeit sowie die Folgen ihrer Nichteinhaltung stellen im Bezug auf die von Léry geschilderten Kannibalismusszenen an Bord, wie auch im Bezug auf die Desertionen im Eismeer um Meta Incognita und die Unruhen auf den holländischen Schiffen interessante Untersuchungspunkte dar. In einem letzten Teil gelingt es der Lizentiatsarbeit aufzuzeigen, dass die Bewegung der Heimkehr ein bestimmendes Motiv im Duktus der Reiseberichte darstellt. Wie Odysseus auf langer Meeresfahrt unzähligen Hindernissen getrotzt und dabei zugleich − und gerade als Folge der nicht linearen Bewegung der Reise und ihrem Charakter einer Art Irrfahrt − Einblicke in fremde Welten gewonnen zu haben, um zum Ende die Schifffahrt im heimatlichen Hafen zu beschliessen, ist ein zentrales Leitmotiv, dem die Berichte folgen. Ein Meer nicht nur erlebt, sondern auch überlebt zu haben, wurde zur Demonstration spezifischer Auserwähltheit. Ein Reisender kam, durch die Spuren, die die Schiffsreise mental wie körperlich an ihm hinterlassen hatte, verändert von der See zurück und konnte diese transformative Rolle des Meeres − je gewaltiger und mächtiger sich das Meer ihm gegenüber gebärdet hatte, umso besser und eindrücklicher − in seinen Bericht einflechten. Eingeordnet in einen heilsgeschichtlichen Kontext, bedeutete das Überleben der Meeresgewalten, der feindlichen Übergriffe anderer Seemächte und fremder Küstenbewohner sowie der drastischen Hungersnöte auf den Schiffen die Auserwähltheit des Reisenden und somit seine Überlegenheit: gegenüber den konfessionellen Gegnern und zuvorderst, und oft parallel, gegenüber den kolonialen Konkurrenzmächten. Die Lizentiatsarbeit zeigt somit auf, dass im Kontext der frühen Kolonialgeschichte der Blick auf Wahrnehmung, Erlebnis und Darstellung des Meeres nicht ausbleiben darf, denn als «halber theil der Welt» (Jean de Léry) markiert das zu überquerende Meer einen überaus bedeutsamen Raum − nicht nur, weil dessen Befahrung überhaupt erst die Voraussetzung für die Entdeckung und Kolonisierung neuer Landgebiete darstellte, sondern auch deshalb, weil das Erlebnis der Seefahrt den Reisenden wie auch die seinen Bericht rezipierenden Leser wiederum in der Wahrnehmung des ‚terrestrischen anderen Teils der Welt’ (der neu erkundeten Gebiete ebenso wie der europäischen Heimat) beeinflussen konnte.
Advisors:Burghartz, Susanna
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Renaissance und frühe Neuzeit (Burghartz)
UniBasel Contributors:Hilfiker, Franziska and Burghartz, Susanna
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:38
Deposited On:06 Feb 2018 11:25

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