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Amerikanische Herausforderung für die Zukunftsstadt. Modernisierungsprozesse in der Bieler Uhrenindustrie am Ende des 19. Jahrhunderts

Grolimund, Remo. Amerikanische Herausforderung für die Zukunftsstadt. Modernisierungsprozesse in der Bieler Uhrenindustrie am Ende des 19. Jahrhunderts. 2009, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Abstract

Wie auch das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts ist das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts für die Schweizer Uhrenindustrie eine Periode krisenhafter Umwälzungen. Mitte der 1870er Jahre erlebt die Branche einen schmerzhaften Absatz- und Preiseinbruch, überdies sehen sich die Schweizer Hersteller mit einer neuen Konkurrenz konfrontiert, die sich an der Weltausstellung von Philadelphia 1876 erstmals publikumswirksam präsentiert. Frisch aus dem Boden gestampfte, voll integrierte amerikanische Grossbetriebe bieten in mechanisierter Serienproduktion gefertigte Uhren von guter Qualität an. Und dies zu wesentlich günstigeren Preisen als die Schweizer, die ihre Uhren in einem von Handarbeit geprägten Verlagssystem, der sogenannten Etablissage, herstellen. Für die Schweizer Uhrenindustrie stellt sich mit der «amerikanischen Herausforderung» die Frage nach einem Wechsel des Produktionsmodells.Diese Lizentiatsarbeit nähert sich dieser Zeit der Krise, der Umstrukturierung und Auseinandersetzung mit dem Modernisierungsprozess über verschiedene Zugänge. Über einen diskursiven Zugang wird am Beispiel der Debatte um die Weltausstellung von Philadelphia der Modernisierungsprozess als Diskurs und reflexiver Rahmen für ökonomische Entscheidungen untersucht. In stetiger Wechselwirkung dazu steht ein eher strukturgeschichtlicher Zugang, der den ökonomischen Wandel durch die Analyse statistischer Daten erschliesst. Auf die «Pionierregion» Biel/Bienne lokal eingegrenzt, werden u. a. Quellen wie Fabrik- und Gewerbestatistiken sowie branchenspezifische Adressbücher untersucht. Quellenbedingte Mängel lassen zwar keine statistisch exakten Schlüsse zu, der Zusammenzug der verschiedenen Datensätze erlaubt aber, eindeutige Tendenzen herauszuarbeiten. Im abschliessenden Teil der Arbeit wird schliesslich versucht, eine Synthese aus dem diskursiven und dem strukturgeschichtlichen Zugang herzustellen, wobei schwerpunktmässig der Wandel der Arbeitsrealitäten und der Berufsbilder betrachtet wird – das Verhältnis zwischen Facharbeitern und unqualifizierten Arbeitskräften, zwischen männlichen und weiblichen Beschäftigten. Dies geschieht unter anderem anhand der Untersuchung des Fallbeispiels Louis Brandt & Frère, der späteren Omega, wobei vorher kaum bearbeitete Quellen aus dem Firmenarchiv zum Zug kommen.Das Diskursereignis Philadelphia eignet sich als verdichteter Zugriffspunkt zur Standortbestimmung für die Produktionsverhältnisse in der Schweizer Uhrenindustrie. In der Konfrontation mit der «amerikanischen Herausforderung» eines modernisierten, nach industriell-kapitalistischen Kriterien organisierten Produktionssystems, treten die Eigenheiten der schweizerischen Verhältnisse und die ihnen inhärente Problematik zu Tage.Die Analyse der sich an diesem Ereignis bündelnden Diskurse sowie deren Abgleich mit dem sich in den statistischen Daten spiegelnden tatsächlichen Entwicklungsstand der Industrien, relativiert jedoch eine allzu lineare Fortschrittsperspektive, die einen klaren Übergang – vom traditionellen, tendenziell überholten, schweizerischen System der handwerklich fundierten, von Heimarbeit und kleinen Ateliers geprägten «Etablissage» hin zu einem modernen, industriellen «amerikanischem System» – postuliert. Tatsächlich sind die Produktionsverhältnisse in der Schweiz bereits vor der Weltausstellung von Philadelphia sehr diversifiziert. Neben handwerklich geprägten Arbeitsgängen gibt es bereits viele Prozessschritte, die von industriellen Fertigungstechniken bestimmt sind. Neben den vielen Heimarbeitern und kleinen Uhrmacherateliers haben sich auch in der Schweiz längst kleinere und grössere Fabriken für Uhrenkomponenten etablieren können. Die «amerikanische Herausforderung» stellt sich indes nicht allein auf einer rein technologisch-arbeitsorganisatorischen Ebene als Alternativmodell dar. Am Diskursereignis Philadelphia bündelt sich vielmehr die Auseinandersetzung mit einem Modernisierungsprozess, der die Schweizer Uhrenindustrie auf verschiedenen Ebenen herausfordert – auf der technologischen Ebene, auf der Ebene der Betriebs- und Branchenorganisation, auf einer marketingtechnischen Ebene, einer sozialen, einer politischen und einer juristischen Ebene. Diese Herausforderungen führen nicht zur Adaption des «amerikanischen Systems», sondern führen im Schweizer Kontext zu spezifischen Ausbildungen der Modernisierung. Aus der Untersuchung der Strukturen des Fallbeispiels «Uhrenzentrum Biel» wird der Eindruck einer nichtlinearen Entwicklung denn auch bestätigt. Selbst im noch jungen Uhrenzentrum, das als «Pionierregion» verstanden werden kann, da sich hier die Modernisierungstendenzen im Vergleich zu anderen, traditionelleren Uhrenregionen – wie etwa Genf, Val de Joux oder auch der Neuenburger Jura – etwas früher und intensiver bemerkbar machen, herrscht eine differenzierte Branchenstruktur vor, die sich im Rahmen eines «industriellen Dualismus» eher noch weiter ausdifferenziert. Keineswegs löst das «amerikanische System» die in der Schweiz seit jeher dezentralisierte Produktionsstruktur ab. Vertikal integrierte Grossbetriebe sind auch im Produktionsnetzwerk des Industriedistrikts Biel bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht das Leitmodell, sondern bleiben eher die Ausnahme. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein herrscht eine – keinesfalls antagonistische – Koexistenz beider Produktionsmodelle vor. Der Modernisierungsprozess erhält in der hiesigen Uhrenindustrie eine spezifisch schweizerische Prägung, die sich in einem Zusammenwirken von Tradition und Handwerk mit Mechanisierung und Industrialisierung äussert.Hinsichtlich der Arbeitsrealitäten sind wegen der grossen Differenzierung der Branche am Ende des 19. Jahrhunderts keineswegs alle Akteure gleichermassen und in gleicher Weise vom Modernisierungsprozess betroffen. Dies zeigt auch die nähere Betrachtung des Verhältnisses zwischen Qualifizierung und Mechanisierung im letzten Teil der Arbeit, der mit einer Fallstudie zur Manufaktur LouisBrandt & Frère endet. Die Erkenntnisse aus diesem Fallbeispiel belegen einerseits die nach wie vor starke Verankerung dieses konzentrierten, vertikal integrierten Grossbetriebs in den arbeitsteilig organisierten Industriedistrikt Biel. Andererseits finden sich in der Organisation des nach industriellen Kriterien organisierten Betriebs erstaunlich starke Kontinuitäten zur Struktur des älteren Etablissage-Modells. Die Betrachtung der Personalstruktur verdeutlicht, dass auch innerhalb der modernen Uhrenmanufaktur eine grosse Differenzierung vorherrscht, und dass im Hinblick auf die Qualifikation der Arbeit die Trennlinie nicht zwischen dem eher mit Handwerk assoziierten Etablissagesystem und der konzentrierten Produktion in der mechanisierten Manufaktur gezogen werden kann. Wiederum muss eine allzu lineare Vorstellung relativiert werden, die von einer Ablösung des «männlichen Elitearbeiters» durch vermehrt weibliche, unqualifizierte Arbeitskräfte ausgeht. Wenn auch am Beispiel der Louis Brandt & Frère unter den qualifizierten Facharbeitern erste «Rationalisierungsopfer» zu Tage treten, überwiegt der Eindruck, dass in beiden Systemen – in der extrem arbeitsteiligen Etablissage, wie auch im rationalisierten Grossbetrieb der mechanisierten Uhrenmanufaktur – die qualifizierte und unqualifizierte Arbeit gleichermassen vertreten sind und sich ergänzen.Diesem Zusammenwirken von qualifizierter, handwerklich geprägter Arbeit und rationalisierten, mechanisierten Arbeitsgängen, dieser spezifisch schweizerischen Synthese zwischen traditionellem, über Generationen gewachsenem Know-How und modernen Arbeitstechniken, dürfte es zu verdanken sein, dass die hiesige Uhrenindustrie der «amerikanischen Herausforderung» trotzen und sich schliesslich ihr gegenüber durchsetzen konnte.
Advisors:Wecker, Regina
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Frauen- und Geschlechtergeschichte (Wecker)
UniBasel Contributors:Wecker, Regina
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:37
Deposited On:06 Feb 2018 11:25

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