Frei, Alban. Abgrenzung und Etablierung. Die Schweizer Volkskunde zwischen völkischer Ideologie und helvetischem Nationalismus in den Jahren 1920-1946. 2010, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.
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Abstract
Die Arbeit hat die Entwicklung der wissenschaftlichen Volkskunde in der Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Thema. Der im Titel angegebene Zeitrahmen weist auf die zwei wesentlichen Spannungsfelder in der wissenschaftlichen Entwicklung der Volkskunde in der Schweiz hin: Einerseits ging es um eine fachliche und personelle Auseinandersetzung mit den Entwicklungen der Disziplin im benachbarten Deutschland, andererseits um die Postulierung einer gesellschaftlichen Relevanz in der Phase der «geistigen Landesverteidigung» und damit um den Zugang zu finanziellen Ressourcen.
Diese beiden Spannungsfelder lassen sich in den folgenden Zitaten exemplarisch nachvollziehen: «Volkskundliches Interesse und volkskundliche Forschung erwuchs immer aus Kulturkrisen. Ihr stärkster Antrieb war und ist das Heimweh nach einem verlorenen Paradies, nach dem Paradies der Ursprünglichkeit, nach dem ‚einfachen Leben’.» Diese Sätze stammen aus dem Vorwort von Richard Weiss’ volkskundlichem Standwerk «Volkskunde der Schweiz» aus dem Jahr 1946 (Zitat S. 53). Weiss, eine der einflussreichsten Figuren der Schweizer Volkskunde, gab damit sowohl dem Reiz, als auch den Gefahren der jungen kulturwissenschaftlichen Disziplin Ausdruck. Die Volkskunde versprach mit einem ethnographischen Blick auf die eigene Volkskultur Erkenntnisse über die Identität und Befindlichkeit eines Volkes beziehungsweise einer Nation liefern zu können. Gleichzeitig sind in Richard Weiss’ Aussage auch zeittypische antimodernistische Reflexe und eine unverkennbare Agrarromantik zu erkennen. Weiss schrieb von «Heimweh nach dem verlorenen Paradies» und dem «einfachen Leben», das den Grundtrieb der volkskundlichen Tätigkeit ausmache, und dass am Anfang volkskundlicher Tätigkeit immer eine «Kulturkrise» stehe. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Volkskultur wird aus der Sichtweise eines ihrer prominenten Fachvertreter also von nostalgischen Gefühlen begleitet, ein Umstand der den Vertretern des Faches ein grosses Mass an Selbstreflektion abverlangt.
1946, zum Zeitpunkt dieser Aussage von Weiss, hatte die schweizerische Gesellschaft eine «Kulturkrise» hinter sich, in der sich die Volkskunde als Orientierungswissenschaft etablieren konnte.
Die gestiegene Wertschätzung der Disziplin äusserte sich nicht nur durch das Erscheinen des Standardwerks, sondern vor allem auf institutioneller Ebene. Die Veröffentlichung von Weiss’ «Volkskunde der Schweiz» kam im gleichen Jahr zustande, wie die Schaffung des ersten Lehrstuhls für Volkskunde an einer Schweizer Universität. Die Universität Zürich beschloss die bis dahin nur als Nebenfach gelehrte Disziplin in den Stand eines vollwertigen Universitätsfaches zu erheben und berief – wenig erstaunlich – Richard Weiss auf den Posten. In der Begründung des Zürcher Regierungsrates für die Schaffung des neuen Lehrstuhls lässt sich unter anderem nachlesen: «Die fortschreitende Aushöhlung und Entwertung des Echt-Volkstümlichen durch Rationalisierung und Technisierung des Lebens bedroht von innen heraus den Fortbestand der kulturellen Eigenart und Vielfalt unseres Landes und damit letztlich seine Existenz. Das Bodenständig-Schweizerische, den Quellengrund des Volkslebens, nicht nur zu erforschen, sondern zu bewahren und zu pflegen, die Festigung unseres Heimat- und Staatsbewusstseins durch die Besinnung auf die traditions- und gemeinschaftsgebundenen Kräfte, gehört zu den vornehmsten Aufgaben der Volkskunde.» (Zitiert nach: Trümpy, Hans: Volkskundliche Forschung und Lehre an den deutsch-schweizerischen Universitäten und die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde. In: Brückner, Wolfgang; Beitl, Klaus (Hg.): Volkskunde als akademische Disziplin. Studien zur Institutionenausbildung. Wien 1983, S. 63-77, hier S. 70-71). Diese antimodernistischen und nationalistischen Argumente des Zürcher Regierungsrates scheinen die Vorurteile gegenüber der Volkskunde als politisch instrumentalisierbare Wissenschaft zu bestätigen, stehen aber konträr zu Weiss’ reflektierter Sichtweise auf die Genese, Arbeitsweise und Funktion der Volkskunde. Weiss nimmt in seiner «Volkskunde der Schweiz» explizit und ausführlich Stellung zur Entwicklung der Disziplin und der Gefahr der politischen Instrumentalisierung und Verwässerung des wissenschaftlichen Anspruchs der Volkskunde.
Diese Reflektion war in Hinblick auf die Fachentwicklung in Deutschland von grosser Bedeutung. Die Ausbildung der wissenschaftlichen Volkskunde steht in engem Zusammenhang mit dem Antimodernismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dem Verlustempfinden des «Bodenständigen» durch Modernisierung, Internationalisierung und Technisierung stand eine ausgeprägte Bewegung zur Heimatverbundenheit und der Suche nach der ursprünglichen Identität entgegen. Heimatschutz, Trachtenbewegungen und Folklore bildeten das populäre Pendant zur Formierung der wissenschaftlichen Volkskunde. Diese Entstehungsgeschichte prädestiniert die Volkskunde für Formen des aggressiveren, chauvinistischen Nationalismus des frühen 20. Jahrhunderts. Unter dem Begriff der «völkischen Wissenschaft» lässt sich eine wichtige Tendenz der Wissenschaftsentwicklung in Deutschland subsumieren. Die kulturwissenschaftliche Disziplin war nicht nur besonders offen für das Ideologiegemisch des Nationalsozialismus, sondern beteiligte sich aktiv an dessen Konstruktion. Hermann Bausinger, der wie kaum ein Anderer die wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung der deutschen Volkskunde prägte, hat diese Entwicklung pointiert zusammengefasst: «Wenn irgendwo in einer Wissenschaft der Nationalsozialismus nicht als Einbruch von aussen, sondern als innere Konsequenz verstanden werden muss, dann in der Volkskunde.» (Bausinger Hermann: Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse. Berlin, Darmstadt 1971, S. 63.).
Diese Ausführungen lassen Brisanz und Dringlichkeit einer Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde erkennen. Dies gilt auch für den schweizerischen Kontext, gerade wenn man bedenkt, dass die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde (SGV) nicht nur in der Gründungsphase der wissenschaftlichen Volkskunde engen Kontakt mit den deutschen Fachkollegen pflegte, sondern dass die Kontakte bis in die 1930er Jahre besonders eng blieben und bei der Etablierung des jungen «Orchideenfachs» (Friedemann Scholl) eine entscheidende Rolle spielten.Die vorliegende Lizentiatsarbeit stellt die Geschichte der wissenschaftlichen Volkskunde in der Schweiz ab dem Beginn der «völkischen» Durchdringung des Fachdiskurses in Deutschland in den 1920er Jahren bis zur Etablierung der Disziplin als vollwertiges Universitätsfach und dem Erscheinen von Weiss’ «Volkskunde der Schweiz» in einer synchronen und diachronen Betrachtungsweise dar. Den theoretischen Rahmen bilden die wissenschaftstheoretischen Überlegungen von Mitchell Ash, der die oft einseitig dargestellte Beziehung von Wissenschaft und Politik durch den Begriff «gegenseitig mobilisierbarer Ressourcenensembles» fruchtbar ergänzt hat, sowie die Kapital-, Habitus- und Feldtheorie Pierre Bourdieus, die eine Möglichkeit bieten, den Etablierungsprozess einer Wissenschaft im gesellschaftlichen Diskurs einerseits und im wissenschaftlichen Feld andererseits zu analysieren.Den theoretisch-methodisch Überlegungen folgt eine historische Kontextualisierung der wissenschaftlichen Entwicklung im Umfeld der «geistigen Landesverteidigung» und den Fachentwicklungen in Deutschland. In einem nächsten Teil wird mit der SGV das personelle und institutionelle Netz der Volkskunde dargestellt. Prägende Personen der Schweizer Volkskunde wie Eduard Hoffmann-Krayer, Paul Geiger und Richard Weiss werden ebenso beleuchtet wie die engen fachlichen Kooperationen und Forschungsprojekte der SGV mit deutschen Fachkollegen. Eine quantitative Analyse der beiden Zeitschriften der SGV gibt Aufschluss über die Themen und Tendenzen der schweizerischen Volkskunde.Nach diesen synoptischen Darstellungen wird der Blickwinkel geändert und durch das bewusste Setzen einzelner Schwerpunkte der wissenschaftlich-methodischen Innovation der Volkskunde sowie dem Selbstverständnis und den Deutungsmustern der Akteure durch kulturgeschichtliche Methoden Rechnung getragen.
Der Aspekt der wissenschaftlichen Innovation wird am Beispiel eines volkskundlichen Grossprojekts nachvollzogen, das einerseits die Chancen und Perspektiven der innovationsfreudigen Disziplin nachzeichnet und andererseits auch exemplarisch für die zunehmende Öffnung der Schweizer Volkskunde gegenüber dem helvetischen Nationalismus steht. Beim Atlas der schweizerischen Volkskunde (ASV) wurden unter widrigen Umständen und mit grossem Aufwand in der ganzen Schweiz volkskundliche Daten erhoben und kartographisch dargestellt. Die volkskundlichen Karten sollten unter anderem zeigen können, dass die schweizerische Volkskultur Sprach- und Konfessionsgrenzen überwinden vermag, und dass rassische Kategorien wissenschaftlich irrelevant sind. Der ASV verfolgte damit in der Phase der «geistigen Landesverteidigung» ein Konzept, das nicht zuletzt wissenschaftliche Argumente für die Eigenständigkeit der schweizerischen Nation liefern sollte. Dies ist besonders beachtenswert, wenn man die Vorgeschichte des ASV in die Betrachtung einbezieht. Dem schweizerischen Atlasprojekt ging eine Kooperation mit dem deutschen Vorgänger voraus, die das Ziel verfolgte, die Volkskultur des «deutschen Volkstums» kartographisch darzustellen. Der Perimeter des deutschen Projektes umfasste alle deutschsprachigen Gebiete Europas und somit auch die Schweiz, jedoch nur die deutschsprachige. Nach ersten Kooperationsversuchen zogen die Schweizer Volkskundler ihre Mitarbeit beim deutschen Atlas zurück und starteten mit dem ASV ihr eigenes Projekt.
Die Genese des ASV ist nur ein interessanter Aspekt der Entwicklung der wissenschaftlichen Volkskunde in der Schweiz. Zu erwähnen wären etwa noch die Tagung des «Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde» die 1938, während die Medien Europas über die Sudetenkrise berichteten, ausgerechnet in Basel abgehalten wurde, sowie die Jahresversammlung der SGV im helvetischen Jubiläumsjahr 1941 (650 Jahre Eidgenossenschaft), bei der die sonst der Folklore abgeneigten Volkskundler ein patriotisches Fest in der Innerschweiz inszenierten. Durch die Analyse dieser Momentaufnahmen in der Wissenschaftsgeschichte wird mit kulturgeschichtlichen Methoden das Bild der Volkskunde in der Schweiz ergänzt.
Die transnational und kulturgeschichtlich orientierte Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde in der Schweiz legt den Fokus auf die Interaktion zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik und sie zeigt auf, wie wissenschaftliche Entwicklung unabhängig von dem der Wissenschaft eigenen Objektivitätsanspruch immer in gesellschaftliche Prozesse eingebunden ist und diese aktiv mitgestaltet.
Diese beiden Spannungsfelder lassen sich in den folgenden Zitaten exemplarisch nachvollziehen: «Volkskundliches Interesse und volkskundliche Forschung erwuchs immer aus Kulturkrisen. Ihr stärkster Antrieb war und ist das Heimweh nach einem verlorenen Paradies, nach dem Paradies der Ursprünglichkeit, nach dem ‚einfachen Leben’.» Diese Sätze stammen aus dem Vorwort von Richard Weiss’ volkskundlichem Standwerk «Volkskunde der Schweiz» aus dem Jahr 1946 (Zitat S. 53). Weiss, eine der einflussreichsten Figuren der Schweizer Volkskunde, gab damit sowohl dem Reiz, als auch den Gefahren der jungen kulturwissenschaftlichen Disziplin Ausdruck. Die Volkskunde versprach mit einem ethnographischen Blick auf die eigene Volkskultur Erkenntnisse über die Identität und Befindlichkeit eines Volkes beziehungsweise einer Nation liefern zu können. Gleichzeitig sind in Richard Weiss’ Aussage auch zeittypische antimodernistische Reflexe und eine unverkennbare Agrarromantik zu erkennen. Weiss schrieb von «Heimweh nach dem verlorenen Paradies» und dem «einfachen Leben», das den Grundtrieb der volkskundlichen Tätigkeit ausmache, und dass am Anfang volkskundlicher Tätigkeit immer eine «Kulturkrise» stehe. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Volkskultur wird aus der Sichtweise eines ihrer prominenten Fachvertreter also von nostalgischen Gefühlen begleitet, ein Umstand der den Vertretern des Faches ein grosses Mass an Selbstreflektion abverlangt.
1946, zum Zeitpunkt dieser Aussage von Weiss, hatte die schweizerische Gesellschaft eine «Kulturkrise» hinter sich, in der sich die Volkskunde als Orientierungswissenschaft etablieren konnte.
Die gestiegene Wertschätzung der Disziplin äusserte sich nicht nur durch das Erscheinen des Standardwerks, sondern vor allem auf institutioneller Ebene. Die Veröffentlichung von Weiss’ «Volkskunde der Schweiz» kam im gleichen Jahr zustande, wie die Schaffung des ersten Lehrstuhls für Volkskunde an einer Schweizer Universität. Die Universität Zürich beschloss die bis dahin nur als Nebenfach gelehrte Disziplin in den Stand eines vollwertigen Universitätsfaches zu erheben und berief – wenig erstaunlich – Richard Weiss auf den Posten. In der Begründung des Zürcher Regierungsrates für die Schaffung des neuen Lehrstuhls lässt sich unter anderem nachlesen: «Die fortschreitende Aushöhlung und Entwertung des Echt-Volkstümlichen durch Rationalisierung und Technisierung des Lebens bedroht von innen heraus den Fortbestand der kulturellen Eigenart und Vielfalt unseres Landes und damit letztlich seine Existenz. Das Bodenständig-Schweizerische, den Quellengrund des Volkslebens, nicht nur zu erforschen, sondern zu bewahren und zu pflegen, die Festigung unseres Heimat- und Staatsbewusstseins durch die Besinnung auf die traditions- und gemeinschaftsgebundenen Kräfte, gehört zu den vornehmsten Aufgaben der Volkskunde.» (Zitiert nach: Trümpy, Hans: Volkskundliche Forschung und Lehre an den deutsch-schweizerischen Universitäten und die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde. In: Brückner, Wolfgang; Beitl, Klaus (Hg.): Volkskunde als akademische Disziplin. Studien zur Institutionenausbildung. Wien 1983, S. 63-77, hier S. 70-71). Diese antimodernistischen und nationalistischen Argumente des Zürcher Regierungsrates scheinen die Vorurteile gegenüber der Volkskunde als politisch instrumentalisierbare Wissenschaft zu bestätigen, stehen aber konträr zu Weiss’ reflektierter Sichtweise auf die Genese, Arbeitsweise und Funktion der Volkskunde. Weiss nimmt in seiner «Volkskunde der Schweiz» explizit und ausführlich Stellung zur Entwicklung der Disziplin und der Gefahr der politischen Instrumentalisierung und Verwässerung des wissenschaftlichen Anspruchs der Volkskunde.
Diese Reflektion war in Hinblick auf die Fachentwicklung in Deutschland von grosser Bedeutung. Die Ausbildung der wissenschaftlichen Volkskunde steht in engem Zusammenhang mit dem Antimodernismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dem Verlustempfinden des «Bodenständigen» durch Modernisierung, Internationalisierung und Technisierung stand eine ausgeprägte Bewegung zur Heimatverbundenheit und der Suche nach der ursprünglichen Identität entgegen. Heimatschutz, Trachtenbewegungen und Folklore bildeten das populäre Pendant zur Formierung der wissenschaftlichen Volkskunde. Diese Entstehungsgeschichte prädestiniert die Volkskunde für Formen des aggressiveren, chauvinistischen Nationalismus des frühen 20. Jahrhunderts. Unter dem Begriff der «völkischen Wissenschaft» lässt sich eine wichtige Tendenz der Wissenschaftsentwicklung in Deutschland subsumieren. Die kulturwissenschaftliche Disziplin war nicht nur besonders offen für das Ideologiegemisch des Nationalsozialismus, sondern beteiligte sich aktiv an dessen Konstruktion. Hermann Bausinger, der wie kaum ein Anderer die wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung der deutschen Volkskunde prägte, hat diese Entwicklung pointiert zusammengefasst: «Wenn irgendwo in einer Wissenschaft der Nationalsozialismus nicht als Einbruch von aussen, sondern als innere Konsequenz verstanden werden muss, dann in der Volkskunde.» (Bausinger Hermann: Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse. Berlin, Darmstadt 1971, S. 63.).
Diese Ausführungen lassen Brisanz und Dringlichkeit einer Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde erkennen. Dies gilt auch für den schweizerischen Kontext, gerade wenn man bedenkt, dass die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde (SGV) nicht nur in der Gründungsphase der wissenschaftlichen Volkskunde engen Kontakt mit den deutschen Fachkollegen pflegte, sondern dass die Kontakte bis in die 1930er Jahre besonders eng blieben und bei der Etablierung des jungen «Orchideenfachs» (Friedemann Scholl) eine entscheidende Rolle spielten.Die vorliegende Lizentiatsarbeit stellt die Geschichte der wissenschaftlichen Volkskunde in der Schweiz ab dem Beginn der «völkischen» Durchdringung des Fachdiskurses in Deutschland in den 1920er Jahren bis zur Etablierung der Disziplin als vollwertiges Universitätsfach und dem Erscheinen von Weiss’ «Volkskunde der Schweiz» in einer synchronen und diachronen Betrachtungsweise dar. Den theoretischen Rahmen bilden die wissenschaftstheoretischen Überlegungen von Mitchell Ash, der die oft einseitig dargestellte Beziehung von Wissenschaft und Politik durch den Begriff «gegenseitig mobilisierbarer Ressourcenensembles» fruchtbar ergänzt hat, sowie die Kapital-, Habitus- und Feldtheorie Pierre Bourdieus, die eine Möglichkeit bieten, den Etablierungsprozess einer Wissenschaft im gesellschaftlichen Diskurs einerseits und im wissenschaftlichen Feld andererseits zu analysieren.Den theoretisch-methodisch Überlegungen folgt eine historische Kontextualisierung der wissenschaftlichen Entwicklung im Umfeld der «geistigen Landesverteidigung» und den Fachentwicklungen in Deutschland. In einem nächsten Teil wird mit der SGV das personelle und institutionelle Netz der Volkskunde dargestellt. Prägende Personen der Schweizer Volkskunde wie Eduard Hoffmann-Krayer, Paul Geiger und Richard Weiss werden ebenso beleuchtet wie die engen fachlichen Kooperationen und Forschungsprojekte der SGV mit deutschen Fachkollegen. Eine quantitative Analyse der beiden Zeitschriften der SGV gibt Aufschluss über die Themen und Tendenzen der schweizerischen Volkskunde.Nach diesen synoptischen Darstellungen wird der Blickwinkel geändert und durch das bewusste Setzen einzelner Schwerpunkte der wissenschaftlich-methodischen Innovation der Volkskunde sowie dem Selbstverständnis und den Deutungsmustern der Akteure durch kulturgeschichtliche Methoden Rechnung getragen.
Der Aspekt der wissenschaftlichen Innovation wird am Beispiel eines volkskundlichen Grossprojekts nachvollzogen, das einerseits die Chancen und Perspektiven der innovationsfreudigen Disziplin nachzeichnet und andererseits auch exemplarisch für die zunehmende Öffnung der Schweizer Volkskunde gegenüber dem helvetischen Nationalismus steht. Beim Atlas der schweizerischen Volkskunde (ASV) wurden unter widrigen Umständen und mit grossem Aufwand in der ganzen Schweiz volkskundliche Daten erhoben und kartographisch dargestellt. Die volkskundlichen Karten sollten unter anderem zeigen können, dass die schweizerische Volkskultur Sprach- und Konfessionsgrenzen überwinden vermag, und dass rassische Kategorien wissenschaftlich irrelevant sind. Der ASV verfolgte damit in der Phase der «geistigen Landesverteidigung» ein Konzept, das nicht zuletzt wissenschaftliche Argumente für die Eigenständigkeit der schweizerischen Nation liefern sollte. Dies ist besonders beachtenswert, wenn man die Vorgeschichte des ASV in die Betrachtung einbezieht. Dem schweizerischen Atlasprojekt ging eine Kooperation mit dem deutschen Vorgänger voraus, die das Ziel verfolgte, die Volkskultur des «deutschen Volkstums» kartographisch darzustellen. Der Perimeter des deutschen Projektes umfasste alle deutschsprachigen Gebiete Europas und somit auch die Schweiz, jedoch nur die deutschsprachige. Nach ersten Kooperationsversuchen zogen die Schweizer Volkskundler ihre Mitarbeit beim deutschen Atlas zurück und starteten mit dem ASV ihr eigenes Projekt.
Die Genese des ASV ist nur ein interessanter Aspekt der Entwicklung der wissenschaftlichen Volkskunde in der Schweiz. Zu erwähnen wären etwa noch die Tagung des «Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde» die 1938, während die Medien Europas über die Sudetenkrise berichteten, ausgerechnet in Basel abgehalten wurde, sowie die Jahresversammlung der SGV im helvetischen Jubiläumsjahr 1941 (650 Jahre Eidgenossenschaft), bei der die sonst der Folklore abgeneigten Volkskundler ein patriotisches Fest in der Innerschweiz inszenierten. Durch die Analyse dieser Momentaufnahmen in der Wissenschaftsgeschichte wird mit kulturgeschichtlichen Methoden das Bild der Volkskunde in der Schweiz ergänzt.
Die transnational und kulturgeschichtlich orientierte Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde in der Schweiz legt den Fokus auf die Interaktion zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik und sie zeigt auf, wie wissenschaftliche Entwicklung unabhängig von dem der Wissenschaft eigenen Objektivitätsanspruch immer in gesellschaftliche Prozesse eingebunden ist und diese aktiv mitgestaltet.
Advisors: | Lengwiler, Martin |
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Faculties and Departments: | 04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Bereich Neuere und Neueste Geschichte > Neuere Allgemeine Geschichte (Lengwiler) |
UniBasel Contributors: | Lengwiler, Martin |
Item Type: | Thesis |
Thesis Subtype: | Master Thesis |
Thesis no: | UNSPECIFIED |
Thesis status: | Complete |
Last Modified: | 05 Apr 2018 17:37 |
Deposited On: | 06 Feb 2018 11:24 |
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