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Die Aufhebung der konfessionellen Ausnahmeartikel, 1973

Canonica, Alan. Die Aufhebung der konfessionellen Ausnahmeartikel, 1973. 2008, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Official URL: https://edoc.unibas.ch/60002/

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Abstract

Der Katholizismus erlebte im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts einen tiefgreifenden Wandel. Der Milieukatholizismus, wie er in der Schweiz, in der Bundesrepublik Deutschland oder in den Niederlanden herrschte, löste sich nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich auf, und das Zweite Vatikanische Konzil brachte den Anschluss der katholischen Kirche an die ökumenische Bewegung. Die Modernisierungsprozesse führten zu einer Entspannung konfessioneller Konfliktlinien und förderten in konfessionell durchmischten Ländern die partnerschaftliche Koexistenz der protestantischen und katholischen Bevölkerung sowie die Aufhebung religiös bestimmter, sozialer Abgrenzungen. Trotz dieser Entwicklungen darf nicht darüber hinweggesehen werden, dass die früheren Segmentierungen für die betroffenen Gesellschaften ein kulturelles Erbe bedeuten. Obschon die Menschen ihre starke Verbundenheit zur Kirche verloren haben, können Mentalitätsstrukturen festgemacht werden, die auf eine zumindest scheinbar längst überwundene, weit zurückliegende Zeit verweisen.In der Schweiz zeigte sich dieser Sachverhalt bei der eidgenössischen Abstimmung zur Aufhebung der konfessionellen Ausnahmeartikel (Jesuiten- und Klosterartikel) besonders deutlich. Die Bestimmungen wurden in den Verfassungen von 1848 und 1874 eingeführt bzw. verschärft. Der Jesuitenartikel verbot den Mitgliedern der Gesellschaft Jesu die gemeinschaftliche Niederlassung in der Schweiz, wie auch jede Wirksamkeit in Kirche und Schule. Der Klosterartikel untersagte den Einzug von Orden, die im Jahre 1874 noch nicht in der Schweiz ansässig waren, und verwehrte gleichzeitig den Bau neuer Klöster. Die Satzungen wirkten wie ein anachronistisches Überbleibsel aus der Sonderbunds- und Kulturkampfzeit, als die Radikalen und Liberalen die Macht in ihren Händen konzentrierten und den Einfluss der konservativen Kräfte möglichst einzudämmen versuchten. Trotz der voranschreitenden Integration der katholischen Minderheit in den Schweizerischen Bundesstaat blieben die konfessionellen Ausnahmeartikel aber bis in die 1970er Jahre fester Bestandteil der Bundesverfassung. Nicht nur für die katholische Kirche, sondern für den katholischen Bevölkerungsteil insgesamt zeitigten die Artikel eine diskriminierende Wirkung. Viele Katholiken fühlten sich als Bürgerinnen und Bürger «zweiter Klasse».Der Jesuiten- und der Klosterartikel waren seit ihrer Einführung umstritten. Doch erst nach langwierigem politischem Ringen konnte der Bundesrat seinen Antrag zur Aufhebung der konfessionellen Ausnahmeartikel im Jahre 1973 der Bevölkerung zur Abstimmung vorlegen. Die «Eliten» aus Politik, Wissenschaft, Kirchen und Medien setzten sich mit einer erdrückenden Mehrheit für die Abrogation der Bestimmungen ein und taten ihre Überzeugung auf breiter Basis kund. Diese Auffassung wurde von der Bevölkerung grundsätzlich geteilt, sodass sich 54,9 Prozent der Wählerinnen und Wähler für das Begehren der Landesregierung aussprachen. Beachtliche 45,1 Prozent wollten die Satzungen aber dennoch beibehalten. Zusätzliche Aussagekraft erhält das Wahlergebnis, wenn man es nach konfessionellen Gesichtspunkten auflöst. So befürworteten ungefähr 90 Prozent der katholischen, aber nur etwa 25 Prozent der protestantischen Bevölkerung die Aufhebung der Artikel. Offensichtlich liessen sich zahlreiche Protestanten bei der Entscheidungsfindung von Vorurteilen, Misstrauen und Ängsten gegenüber den Katholiken leiten. Der politische Katholizismus wurde weiterhin als gefahrvolle Realität betrachtet, der den Bundesstaat zu zersetzen drohte. Und die konfessionellen Ressentiments, die im 19. Jahrhundert zustande kamen, haben sich, so scheint es, über Generationen erhalten. Voreilige Schlüsse sollten aber vermieden werden, sodass erst die eingehende Auseinandersetzung mit dem historischen Kontext und dem ausgetragenen Abstimmungskampf gesicherte Antworten gewährleisten kann. Schliesslich erscheint es problematisch, den religiösen Aspekt so stark ins Zentrum zu rücken, wo doch die Kirchen sowie die christlichen Glaubens- und Weltanschauungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusehends an Bedeutung verloren.Die Auseinandersetzung mit der Thematik führt schnell zu der Einsicht, dass es in der Abstimmung von 1973 nicht nur um die Gesellschaft Jesu und die Klöster ging. Zentral war die Erscheinung des Katholizismus in seiner Gesamtheit. Für das Wahlverhalten erwies sich der Aspekt dezisiv, wie dieser von den Aussenstehenden wahrgenommen wurde. Konnte bei den Protestanten das nötige Vertrauen gegenüber den katholischen Institutionen und ihrer Anhängerinnen und Anhänger geweckt werden – dies sollte sich als der entscheidende Punkt erweisen –, so steigerten sich die Chancen auf einen erfreulichen Ausgang für den Antrag der Landesregierung. Ohne Zweifel hatte sich das konfessionelle Verhältnis in der Schweiz im Verlaufe des 20. Jahrhunderts merklich verbessert. Auf politischer Ebene war eine irenische Koexistenz geschaffen worden, wobei die ehemals Katholisch-Konservativen selbst einen Modernisierungsprozess durchliefen, der schliesslich 1970 in der Gründung der Christlichdemokratischen Volkspartei mündete. Zudem trat das Interesse für religiöse Fragen merklich in den Hintergrund. Der politische Alltag wurde von den Themen Wirtschaft, Finanzen und Sozialpolitik bestimmt. Das Zweite Vatikanische Konzil und seine Rezeption führten zu einer engeren ökumenischen Zusammenarbeit, die sich auch auf schweizerischem Boden bemerkbar machte. Demselben Geist des Konzils fühlten sich auch die Jesuiten verpflichtet, sodass sie sich von dem von verschiedenen Seiten an sie gerichteten Charakterbild als Vorkämpfer des politischen Katholizismus distanzieren konnten. Es darf auch nicht übersehen werden, dass die eidgenössische Bevölkerung in den 1960er Jahren für die Problematik der konfessionellen Ausnahmeartikel sensibilisiert wurde. 1963 trat die Schweiz dem Europarat bei, was die Diskussionen über eine allfällige Unterzeichnung und Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention nährte. Dabei erwiesen sich der Jesuiten- und der Klosterartikel als hinderlich, da sie gegen das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, gegen das Recht auf freie Meinungsäusserung sowie gegen das Recht auf Versammlungs- und Vereinsfreiheit verstiessen. Den Schweizerinnen und Schweizern wurde ins Bewusstsein gerufen, dass ihre Bundesverfassung Bestimmungen enthielt, die mit den Menschenrechtsanforderungen nicht vereinbar waren. Gleichzeitig herrschten aber weiterhin ungelöste Probleme zwischen Katholiken und Protestanten. Die Frage der Mischehen ist als die wohl prominenteste hervorzuheben. Weiter wirkten empörende Affären, wie diejenigen von Stephan Pfürtner und Hans Küng, als belastende Rahmenbedingungen für die Abstimmung. Schliesslich könnte auf protestantischer Seite die Volkszählung von 1970 eine einschüchternde Wirkung ausgeübt haben. Diese ergab, dass der Schweizerische Bundesstaat, insbesondere durch die Einwanderung aus den Ländern Italien und Spanien, erstmals seit seiner Gründung mehr Katholiken als Protestanten auf seinem Gebiet beherbergte.Der Abstimmungskampf machte zunächst deutlich, dass die Einmütigkeit der eidgenössischen Räte zum Thema Jesuiten- und Klosterartikel nicht mit der öffentlichen Meinung konvergierte. Es bildeten sich zahlreiche Komitees, die sich aktiv für die Beibehaltung der konfessionellen Ausnahmeartikel einsetzten. In Bern und Zürich kam es sogar zu organisierten Protestmärschen gegen den Antrag der Landesregierung. Zu den engagierten Gegnern gehörten hauptsächlich (fundamentalistisch oder militant eingestellte) Protestanten, Angehörige von Freikirchen und Freidenker. Insgesamt erhält man den Eindruck, die Aufhebungsbefürworter, die sich wenig organisiert zeigten, seien von dem Eifer der Gegner überrascht worden. Besonders hervorzuheben ist in dieser Hinsicht der Einsatz einzelner Personen, die aus dem Milieu der Überfremdungsgegner stammten. Mitglieder der Nationalen Aktion und der Republikanischen Bewegung sorgten für eine enge Verzahnung des Themas der konfessionellen Ausnahmeartikel mit der (katholischen) Überfremdungsfrage.Anhand der Analyse des Abstimmungsergebnisses lassen sich bei den Revisionsgegnern vier bestimmende Haltungen eruieren: 1. Die Perzeption des Katholizismus als Feindbild und die Befürchtung einer Rekatholisierung der Schweiz. 2. Kritik an konkreten Missständen (bspw. Mischehenpraxis oder konfessionelle Schulen). 3. Kulturkämpferische Ressentiments vonseiten der Radikalen und Liberalen. 4. Befürchtung einer (katholischen) Überfremdung.Das Abstimmungsresultat vergegenwärtigte der Bevölkerung ein Stück nur bedingt bewältigter Mentalitäts- und Kulturgeschichte. Die Jesuiten- und Klosterfrage demonstrierte, wie sich konfessionell bestimmte, gefühlsmässige Abneigungen über Generationen erhalten hatten. Die Haupterkenntnis der Untersuchung liegt darin, dass konfessionelle Gräben noch in den 1970er Jahren sichtbar werden konnten und der Milieukatholizismus von zahlreichen Protestanten in der Schweiz noch immer als unheimlich, bedrohlich und für den Bundesstaat gefährdend aufgefasst wurde. Dies kann darauf zurückgeführt werden, dass die religiöse Problematik vor der Abstimmung kaum eine Thematisierung erfuhr. Und selbst nach dem irritierenden Ergebnis fand nur schwerlich eine Auseinandersetzung mit dem Wahlresultat statt. Die fehlenden Bemühungen, den «meterhohen Schutt konfessionellen Haders» abzubauen, können als ein kulturelles Versäumnis bewertet werden.Dennoch erfährt der konfessionelle Faktor eine gewisse Einschränkung. Der Abstimmungskampf der Aufhebungsgegner basierte auf dem Schüren von Ängsten. So wurden angebliche Rekatholisierungspläne Roms mit ausländerfeindlichen Parolen vermengt. Es erscheint in diesem Kontext nicht verwunderlich, dass zahlreiche Nein-Stimmen aus derselben Volksschicht stammten, die bereits die Überfremdungsinitiative überdurchschnittlich stark begrüsst hatte. Zudem muss festgehalten werden, dass zwar die Konfessionszugehörigkeit für das Wahlverhalten wichtig war, dies aber nicht als Zeichen für eine starke Bindung an die jeweilige Kirche gedeutet werden sollte. Vielmehr wird hier die These vertreten, dass insbesondere kirchenferne und schlecht informierte Protestanten gegen die Aufhebung der konfessionellen Ausnahmeartikel stimmten, weil sie keinen positiven Bezug zu den Landeskirchen pflegten und die innerkirchlichen Mentalitätswandlungen nicht erkannten. Auffällig sind, wie bereits angedeutet wurde, die strukturellen Ähnlichkeiten mit der Überfremdungsinitiative. Bemerkenswert ist dabei der divergente Popularitätsgrad der Abstimmungen. Die konfessionellen Ausnahmeartikel und die damit verbundenen Auseinandersetzungen sind bei der jüngeren Generation kaum bekannt, während die «Schwarzenbachinitiative» noch vielen Personen ein Begriff sein dürfte. Dies hängt einerseits mit dem Faktum zusammen, dass die Ausländerfrage weiterhin hochaktuell ist, während konfessionelle Reibungen kaum mehr auszumachen sind. Andererseits scheint die konfessionelle Frage – was sich bspw. an der fehlenden Beschäftigung mit dem Abstimmungsresultat von 1973 zeigte – bestimmte, historisch verwurzelte Hemmungen und Komplexe hervorzurufen, die die Schweizerinnen und Schweizer fast instinktiv dazu verleiten, der konfessionellen Problematik aus dem Weg zu gehen.
Advisors:Kreis, Georg
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Neuere allgemeine Geschichte (Kreis)
UniBasel Contributors:Kreis, Georg
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:37
Deposited On:06 Feb 2018 11:23

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