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”Unerwünschte Gäste”. Russische Soldaten in der Schweiz 1915-1920

Bürgisser, Thomas. ”Unerwünschte Gäste”. Russische Soldaten in der Schweiz 1915-1920. 2007, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Abstract

Zwischen 1915 und 1920, im Zuge und in der Folge des Ersten Weltkriegs, erreichten insgesamt zwischen 3'000 und 4'000 russische Soldaten die Schweiz. Die meisten von ihnen waren Kriegsgefangene der Zentralmächte Deutschland und Österreich-Ungarn, die den oft unerträglichen Lebensbedingungen in den Lagern und Arbeitskommandos entflohen waren. Sie hofften die neutrale Schweiz zu erreichen, um nach Jahren des Krieges und der Gefangenschaft mit Hilfe der russischen Gesandtschaft in Bern in die Heimat zurückzukehren. Alleine oder in kleinen Gruppen waren sie ihren Bewachern entkommen und hatten – anders als unzählige ihrer Leidensgenossen, deren Flucht missglückte – unbemerkt die Schweizer Grenze überschreiten können. Teilweise waren diese russischen Militärflüchtlinge mehrere Tage oder gar Wochen lang unterwegs. Flüchtlinge aus südtiroler Lagern oder dem österreichischen Voralpengebiet mussten Bergketten und Pässe überwinden, um die Schweiz zu erreichen, zwischen Deutschland und der Eidgenossenschaft stellten Rhein und Bodensee eine oft nur schwer zu überwindende natürliche Grenze dar.
In der Schweiz angekommen liessen die Behörden den Flüchtlingen in den ersten Kriegsjahren die freie Wahl, ob sie unter Vermittlung der Botschaft repatriiert zu werden wünschten oder in der Schweiz ihr Glück versuchen wollten. Bis ins Jahr 1918 waren es nur etwa 50 russische Kriegsflüchtlinge, die es vorzogen, sich in der Eidgenossenschaft niederzulassen und hier ihr Glück zu wagen. Die meisten dagegen zog es in die Heimat, zumal die Gesandtschaft sie mit erleichterten Bedingungen und einem Dienst hinter der Front köderten. Offenbar wurden sie damit jedoch getäuscht: Nachdem im dritten Kriegsjahr russische Truppen nach Frankreich verschifft worden waren, um dem bedrängten Verbündeten an der Westfront zu Hilfe zu kommen, reihte man die „Heimkehrer“ aus der Schweiz beim Betreten französischen Bodens geradewegs in diese Regimenter ein. Rund Tausend Angehörige dieses russischen Expeditionscorps in Frankreich stellten die zweite Flüchtlingswelle russischer Soldaten dar, die im Laufe des Jahres 1918, über den Jura kommend, Schweizer Boden erreichten.Rund 40'000 Soldaten umfasste dieses russische Kontingent, das in den Jahren 1916 und 1917 unter enormen Verlusten an der Seite der französischen, belgischen und britischen Verbündeten an der Somme und bei Verdun gegen die deutschen Truppen kämpfte. Selbst als nach der Februarrevolution in Russland 1917 durch die Erlasse des Petrograder Rates der Arbeiter- und Soldatendeputierten den russischen Soldaten weitgehende demokratische Rechte eingeräumt worden waren, entschlossen sich die Mitglieder des Expeditionscorps in einer Urabstimmung für die Teilnahme an der alliierten Frühjahrsoffensive. Die sprichwörtlich über Nacht von rechtlosen Bauernsoldaten der Zarenarmee zu mündigen Bürgern in der Uniform der „freiesten Armee der Welt“ gewandelten Angehörigen des Expeditionscorps bezahlten für ihre Teilnahme an der Offensive erneut mit einem massiven Blutzoll. Im Zuge zahlreicher Meutereien bei den französischen Truppen im Nachgang des missglückten Generalangriffs, gärte es nun auch in den russischen Regimentern. Als die Soldatenräte ihre Rechte durchsetzen wollten, wurde ihnen dies vom Offizierscorps und der französischen Regierung als offene Rebellion attestiert, die mit Waffengewalt niedergeschlagen wurde. Die Einheiten wurden aufgelöst und zu Arbeitskompanien umformiert.Die Ansprüche und Vorstellungen der ehemaligen Mitglieder des russischen Expeditionscorps bei ihrer Ankunft in der Schweiz waren stark von den als Unrechtserfahrungen rezipierten Erlebnissen in Frankreich geprägt. Nachdem die Sowjet-Regierung im Februar 1918 in Brest-Litovsk mit den Zentralmächten einen Separatfrieden geschlossen hatte, fühlten sie sich als freie Bürger einer freien Republik, nicht als die Deserteure einer kriegsführenden Nation, als die sie die Schweizer Behörden und die misstrauische Bevölkerung deklassierte. Wie auch die weiterhin über die Grenzen im Norden und Osten strömenden entflohenen russischen Kriegsgefangenen wünschten sie sich nichts sehnlicher als eine Repatriierung nach Russland, um zu ihren Familien und in ihre Dörfer zurückzukehren und ihren Beitrag zum Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaft und zum Kampf gegen die „Feinde der Revolution“ zu leisten. Kriegsbedingte Transportprobleme und die unklaren politischen Verhältnisse in Russland, die schliesslich in einen blutigen Bürgerkrieg mit ausländischer Intervention mündeten, verunmöglichten während Monaten eine Heimführung der gestrandeten Flüchtlinge. Ohne eine von der Eidgenossenschaft offiziell anerkannte diplomatische Vertretung entbehrten die russischen Soldaten zudem eines konsularischen Schutzes im Gastland.Nach der Oktoberrevolution in Russland war der Aufenthalt der entflohenen Kriegsgefangenen aus Russland und vor allem der Deserteure aus dem Expeditionscorps in der Schweiz nicht nur unfreiwillig, sondern von Seiten der Behörden und weiten Kreisen des Bürgertums auch gänzlich unerwünscht. Die schweizerische Eidgenossenschaft stürzte gegen Ende des Krieges in die grösste Krise ihrer Existenz. Immer erdrückender wirkten sich für weite Kreise der Arbeiterschaft und der Angestellten die Lasten des Militärdienstes, Mangelernährung und die allgemein starke materielle Not aus. Das konservative Bürgertum und der Bauernstand, die von der Kriegswirtschaft durchaus profitierten, stemmten sich vehement gegen die nötigen Reformmassnahmen, wie sie Sozialdemokratie und Gewerkschaften in immer schärferen Tönen forderten. Vor dem Hintergrund der starken wirtschaftlichen Bedrängnis breiter Schichten des Schweizervolkes sowie den revolutionären Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa bei Kriegsende eskalierte der Konflikt mit dem Landesstreik im November zur gewalttätigen Auseinandersetzung am Rande eines Bürgerkrieges. Die Revolutionshysterie im bürgerlichen Lager und die Angst vor einem von Ausländern und Sozialdemokraten angezettelten „bolschewistischen Putsch“ baute auf der seit Kriegsbeginn aufkommenden Vorstellung von einer „Überfremdung“ auf, die zu einem Schlüsselbegriff für das Verständnis der Ausländerfrage und des grundlegenden Wandels der politischen Kultur in der Schweiz des 20. Jahrhunderts werden sollte. Als „volksfremde“ Slawen, „feige Deserteure“ und mit ihren diffusen Hoffnungen auf eine neue, sozialistische und gerechte Gesellschaftsordnung in der Welt entsprachen die russischen Soldaten in der Schweiz dem Schreckgespinst rechtsbürgerlicher Kreise schlechthin.Für die Schweizer Behörden war deshalb klar, dass man die Russen nicht „frei herumlaufen“ lassen könne, bis ein Heimtransport möglich sein würde. Ein im Herbst 1917 beschlossenes Förderprogramm des Bundesrats zur Erweiterung der landwirtschaftlichen Nutzfläche und der durch Aktivdienst und Abwanderung in die lukrativere Kriegsindustrie hervorgerufene Arbeitskräftemangel legte den Einsatz der russischen Flüchtlinge bei Meliorationsprojekten nahe. Die neu ankommenden Flüchtlinge wurden deshalb ab Januar 1918 von den Militärbehörden in Lagern interniert, in Arbeitsdetachemente eingeteilt und verrichteten während Monaten in verschiedenen Regionen des Landes bei Entwässerungsarbeiten, zum Teil auch im Kraftwerkbau und in der Landwirtschaft ihren Arbeitsdienst. Ausgelöst durch eine allgemeine Unzufriedenheit über ihren rechtlichen Status, durch in ihren Augen schlechte Verpflegung, Ausrüstung und Behandlung, durch die Tatsache, dass sie nach wie vor unter militärischer Disziplin standen und auch durch sprachliche und kulturelle Missverständnisse kam es in den meisten dieser Detachemente zu Unmutsbekundungen, Arbeitsniederlegungen und Streiks.Nachdem die Gesandtschaft des Zarenreiches und später auch der Geschäftsträger der diplomatischen Vertretung der Provisorischen Regierung die Räumlichkeiten der Botschaft hatten räumen müssen, zog im Mai 1918 eine Sowjet-Mission in Bern ein, die de facto Beziehungen zum Bundesrat aufnahm. Gerade auf die Arbeitsdetachemente der russischen entflohenen Kriegsgefangenen und Deserteure hatten die mit viel revolutionärem Selbstvertrauen, wenig diplomatischem Feingefühl und beschränkter Hilfswilligkeit auftretenden Vertreter Sowjet-Russlands nach Auffassung der Schweizer Behörden einen schädlichen Einfluss. So wie man der Sowjet-Mission völlig ungerechtfertigt eine direkte Urheberschaft am Landesstreik vorwarf, so bezichtigte man sie auch der „Verhetzung“ der russischen Soldaten im Lande. Im August 1918 erreichte eine Delegation einer Kommission des sowjetrussischen Roten Kreuzes die Schweiz, die sich mit praktischen Hilfsmitteln den Soldaten der Arbeitsdetachemente annahm. Russen, die bei den Behörden zuvor unter dem Vorwurf einer „absichtlichen geringen Arbeitsleistung“ standen, wurden vom Arzt des sowjetrussischen Roten Kreuzes Mangelerscheinungen und Lungenkrankheiten attestiert, die sie für die Schwerstarbeit in den nassen Gräben untauglich machte. In Zusammenarbeit mit dem Eidgenössischen Militärdepartement richtete das sowjetische Rote Kreuz für die kranken Militärflüchtlinge Sanatorien und Erholungsheime in Kurorten ein.Schon zu Beginn des Weltkriegs gab es mehrere mit dem zaristischen Russischen Roten Kreuz assoziierte Hilfsorganisationen, die sich um das Schicksal der russischen Kriegsgefangenen der Zentralmächte kümmerten. Nach der Revolution in Russland wurden Infrastruktur und Finanzen der alten, eng mit dem Zarismus verbundenen Rot-Kreuz-Organisation von den Bolschewiki konfisziert und die Strukturen der Organisation zerbrachen entlang der Grenzen zwischen den verfeindeten Bürgerkriegsparteien. Neben der Delegation des sowjetrussischen Roten Kreuzes existierten nach der Revolution auch in der Schweiz noch zahlreiche andere Hilfskomitees, die sich gegenüber den Russinnen und Russen in der Emigration, aber auch gegenüber den Schweizer Behörden als offizielle Nachfolgeorganisation des alten russischen Roten Kreuzes zu behaupten versuchten. Mit Hilfe karitativer Tätigkeit zugunsten von Landsleuten in der Schweiz wurde auch versucht, die nationalen oder politischen Gruppierungen, mit denen man sympathisierte, gegenüber dem Bundesrat als neue russische Regierung zu legitimieren. So wie der Konflikt zwischen „Proletariat“ und „Bourgeoisie“ wurden auch die heftigen politischen Auseinandersetzungen unter den russischen Hilfsorganisationen in der Schweiz oft auf dem Buckel der russischen Kriegsflüchtlinge ausgetragen. Die Erholungsheime und Sanatorien des sowjetischen Roten Kreuzes wurden gegenüber den Polizeibehörden immer wieder als „Bolschewistennester“ und „revolutionäre Propagandazentralen“ denunziert. In ihrer Panik vor einer ausländischen Urheberschaft der sozialen Unruhen im Land waren die Schweizer Behörden gewillt, jedem noch so irrsinnigen Hinweis nachzugehen.Im Juni 1918 und im Januar 1919 konnten zwei grössere Heimtransporte von insgesamt rund 1'300 russischen Soldaten bewerkstelligt werden und die Arbeitsdetachemente wurden aufgelöst. Weder der Abschluss der Waffenstillstandsverhandlungen zwischen den Westalliierten und Deutschland im November 1918 noch das Inkrafttreten des Versailler Vertrags im Januar 1920 führten für die russischen Internierten der Zentralmächte zur unmittelbaren Beendigung der Kriegsgefangenschaft. Grenzübertritte entflohener Russen in die Schweiz hielten deshalb weiter an. Im Juni 1919 erwirkte ein russisches Hilfskomitee, das von der antibolschewistischen Regierung in Omsk unterstützt wurde, beim Bundesrat die Bewilligung einer Hospitalisierung von etwa 300 kriegsgefangenen tuberkulösen russischen Soldaten aus Deutschland in den Schweizer Alpen. Nachdem die Hälfte dieser hospitalisierten Soldaten im Oktober 1919 wieder abtransportiert worden war, angeblich unter dem Zwang, nach Südrussland verschifft zu werden und mit den „weissen“ Bürgerkriegstruppen gegen die Bolschewiki zu kämpfen, flohen die meisten der verbliebenen Russen aus diesem zwielichtigen Sanatorium. Unterschlupf fanden auch sie in den Erholungsheimen, die das sowjetische Rote Kreuz eingerichtet hatte. Ihr Aufenthalt in der Schweiz endete mit einem letzten grossen Transport heimkehrwilliger russischer Soldaten und Zivilpersonen im April 1920.In den „kleinen Geschichten“ dieser „unerwünschten Gäste“ in der Schweiz und ihrem Versuch der Selbstbehauptung zwischen Weltkrieg und Bürgerkrieg, zwischen Revolution und Konterrevolution, den sich auftuenden sozialen Gräben in der Schweiz und in einem Klima von Angst und Fremdenfeindlichkeit spiegeln sich die Leitlinien der „grossen“ historischen Entwicklungen, die das 20. Jahrhundert nachhaltig prägten.
 Das Foto zeigt Russische Soldaten beim Bau des Surbkanals in Niederweningen Kanton Zürich.
Advisors:Haumann, Heiko
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Osteuropäische und neuere Geschichte (Haumann)
UniBasel Contributors:Bürgisser, Thomas and Haumann, Heiko
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:22 Apr 2018 04:32
Deposited On:06 Feb 2018 11:23

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