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Lebensgeschichtliche Aufzeichnungen städtischer Dienstmädchen in Wien (1850-1929). Die Lebens- und Arbeitswelten von Helene Gasser und Marie Konheisner

Althaus, Andrea. Lebensgeschichtliche Aufzeichnungen städtischer Dienstmädchen in Wien (1850-1929). Die Lebens- und Arbeitswelten von Helene Gasser und Marie Konheisner. 2008, Master Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Abstract

Das 19. Jahrhundert wird auch das «Jahrhundert der Dienstmädchen» genannt. Allein in Wien waren im Jahr 1890 mehr als 91'000 Dienstbot/innen beschäftigt, was einem Anteil von 7 Prozent an der Wiener Gesamtbevölkerung entsprach. Charakteristisches Merkmal dieser Berufsgruppe ist, dass sie in hohem Masse feminisiert war. 1890 waren 94 Prozent des Dienstpersonals weiblich, zehn Jahre später bereits 97 Prozent. In meiner Lizentiatsarbeit werden die Lebens- und Arbeitswelten dieser grössten weiblichen Berufsgruppe in Wien in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, anhand lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen zweier Dienstmädchen, beleuchtet. Im ersten Kapitel werden die beiden Autorinnen der analysierten Lebensgeschichten – Helene Gasser und Marie Konheisner – vorgestellt. Helene Gasser wurde 1840 in Osttirol geboren und wuchs als eines von zwölf Kindern in der Familie eines Schneiders auf. 1864 nahm sie die Stelle in dem jüdisch grossbürgerlichen Haushalt der Familie Fleischl von Marxow in Wien an, wo sie bis zum Tod ihrer Dienstgeberin im Jahr 1899 geblieben ist. In dieser Zeit stieg sie vom Stubenmädchen zum prestigeträchtigsten Posten innerhalb der Dienstmädchenhierarchie – zur Köchin – auf. 1899 setzte sie sich zur Ruhe, kehrte nach Tirol zurück und begann mit der Niederschrift ihrer Memoiren. Marie Konheisner wurde 1875 in Oberösterreich geboren. Ihre Aufzeichnungen beginnen mit ihrem Arbeitsanfang als Köchin bei der grossbürgerlich-adligen Familie Kövess von Kövessháza im Jahr 1898, bei der sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1958 beschäftigt war. Im Gegensatz zu Gasser erfuhr Konheisner, infolge des wirtschaftlichen Niedergangs ihrer Arbeitgeberfamilie nach dem Ersten Weltkrieg, einen sozialen Abstieg. Sie wurde 1921 von der Köchin zum Mädchen für Alles degradiert. Ihre Aufzeichnungen enden im Jahr 1929, in einer, nicht nur für Konheisner, krisenhaften Zeit.Im zweiten Kapitel wird der theoretische und methodische Rahmen der Arbeit abgesteckt. Das der Arbeit zugrundeliegende Geschichtsverständnis einer neuen Kulturgeschichte wird diskutiert, zentrale Begrifflichkeiten, wie der Begriff der Lebenswelt oder der Erfahrung, erläutert sowie relevante theoretische Konzeptionen, insbesondere Gedächtnis-, Erinnerungs- und Identitätstheorien, ausgeleuchtet. Ebenso wird der Umgang mit lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen als historische Quellen problematisiert und reflektiert, und die Methode der interpretativen Segmentationsanalyse vorgestellt, mit der die autobiographischen Selbstpräsentationen analysiert werden. Um die Lebensgeschichten nicht isoliert darzustellen, wird im dritten Kapitel der historisch-gesellschaftliche Kontext aufgearbeitet, in dem die Quellen entstanden sind. Erstens werden die allgemeinen Rahmenbedingungen in Bezug auf ökonomische, politische und soziale Entwicklungen in Österreich zwischen 1850 und 1929 thematisiert. Zweitens wird die Wirkung dieser Entwicklungen in dieser Zeit auf die Frauenarbeit im Allgemeinen und die Dienstmädchenarbeit im Speziellen untersucht. Anschliessend werden die konstituierenden Elemente für die Lebens- und Arbeitsbedingungen des häuslichen Dienstpersonals in Wien dargestellt. Dies sind einerseits die rechtlichen Grundlagen zur Regelung des Arbeitsverhältnisses zwischen Dienstbot/in und Dienstgeber/in und andererseits die spezifischen Eigenschaften der Erwerbsarbeit im bürgerlichen Privathaushalt. Ebenso wird der zeitgenössische Diskurs zur «Dienstbotenfrage», der in vielfältiger Weise durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch geführt wurde, charakterisiert und vorgestellt.Im letzten Kapitel werden die lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen analysiert und diskutiert. Die wichtigsten Ergebnisse sollen hier kurz zusammengefasst werden. Helene Gasser und Marie Konheisner waren beide in einem grossbürgerlichen Haushalt beschäftigt. Dieser stellt den Ereignisrahmen ihrer lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen dar. Im Gegensatz zur klassischen bürgerlichen Autobiographie, deren Referenzrahmen die ‚grosse Geschichte’ ist, orientieren sich Gasser und Konheisner an den Menschen in ihrem nahen Umfeld. Wichtigste Bezugsebene für die Einordnung ihrer lebensgeschichtlichen Erfahrungen sind die Dienstgeber/innen und ihre Familie. So erfahren die Leser/innen mehr über den bürgerlichen Lebensstil als über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der städtischen Dienstmädchen. In beiden Aufzeichnungen wird der Beziehung zu den ‚Herrschaften’ einen grossen Stellenwert beigemessen. Ein Schwerpunkt in Konheisners Lebensgeschichte liegt auf der Schilderung der problematischen Beziehung zu ihrer Arbeitgeberin Eugenie Kövess. Im Gegensatz dazu verehrt Helene Gasser ihre Dienstgeberin Ida Fleischl und stellt sie als wichtigste Bezugsperson dar. Gassers Identifikation mit Ida Fleischl und Konheisners Distanzierung von Eugenie Kövess unterscheiden sich zwar fundamental voneinander, sind jedoch beide Ausdruck des komplexen, hierarchisch geordneten Beziehungsgeflechts zwischen Dienstmädchen und Hausfrau im bürgerlichen Haushalt. Die Erwerbsarbeit im Privathaushalt, das Zusammenfallen von Wohn- und Arbeitsort und die persönliche (gegenseitige) Abhängigkeit vermischen die Grenzen zwischen privater Beziehung und vertraglich geregeltem Arbeitsverhältnis. Konheisner steht in einem konflikthaften Konkurrenzverhältnis zu Eugenie Kövess und Helene Gasser mit Ida Fleischl in einem paternalistisch-protektiven ‚Mutter-Kind-Verhältnis’. Die in beiden Fällen asymmetrische Verteilung von Rechten und Pflichten zugunsten der Arbeitgeberinnen ist in den Dienstbotenordnungen verankert. Die Ausgestaltung der Beziehungen liegt jedoch in dem unterschiedlichen Selbstverständnis der Hausfrauen, wie Dienstbot/innen behandelt werden sollen. Ida Fleischl erzieht Gasser auf gütige Weise und behandelt sie ‚wie ein Kind vom Hause’. Dies entspricht dem Ideal der bürgerlichen Frauenbewegung, den ‚armen Schwestern’ zu helfen und sie zu beschützen. Eugenie Kövess sichert die hierarchische Differenz durch eine herablassende Behandlung. Die Arbeit der Dienstmädchen wird von ihr als Selbstverständlichkeit aufgefasst und scheinbar nicht gewürdigt. Gewiss muss berücksichtigt werden, dass dieses Urteil auf die Schilderungen der Autorinnen zurückgeht. Diese stehen in unterschiedlichen diskursiven Traditionen. Helene Gasser ordnet sich ein in das von bürgerlicher Seite propagierte Bild eines mustergültigen Dienstmädchens, das durch Treue, Fleiss und absolute Loyalität gegenüber der Familie definiert wird. Marie Konheisner stilisiert sich als Opfer und prangert Eugenie Kövess als ungerechte, unerfahrene Hausfrau an, die keine Rücksicht auf das Wohlergehen ihres Personals nimmt. Eine solche Sichtweise entspricht den Beschwerden und Klagen von Dienstmädchen, wie sie in der sozialdemokratischen Propaganda oder den in den 1910er Jahren gegründeten Dienstpersonalzeitungen verbreitet wurden. Der Arbeitsalltag zeichnet sich in beiden Zeugnissen durch unklare Aufgabenbereiche, lange Präsenzzeiten sowie eine hohe physische und psychische Belastung aus. Dies liegt vor allem in der rechtlichen Situation der Dienstmädchen begründet. Die Wiener Dienstbotenordnungen von 1810 und 1910 definieren die Dienstbotenarbeit als unqualifizierte Arbeit. Die Aufgabenbereiche werden an keiner Stelle eingeschränkt und umfassen sämtliche Tätigkeiten, für die Frauen sich, laut der bürgerlichen Geschlechterideologie, aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit qualifizieren. Die Dienstbotenordnungen verpflichteten das Dienstpersonal nebst einer ständigen Arbeitsbereitschaft auch ausdrücklich zu Treue, Fleiss und Willigkeit. Des Weiteren wurde das Dienstpersonal per Gesetz der Gewalt des Hausherrn unterstellt. Auch wenn weder in Gassers noch in Konheisners Lebensgeschichte Anzeichen auf einen willkürlichen Machtmissbrauch zu finden sind, wurde von ihnen gefordert, dass sie sich nach den Bedürfnissen der ‚Herrschaften’ zu richten hatten. So bestimmt in beiden Lebensgeschichten der bürgerliche Lebensstil die Arbeitsbedingungen. Dies wirkte sich in direkter Weise auf die Lebensbedingungen aus, da der Arbeitsort gleichzeitig auch Wohnort war. Angaben über Wohnsituation, Essen, Lohn und Freizeit werden jedoch in beiden Lebensgeschichten nicht ausführlich thematisiert. Aus Nebensätzen und Randbemerkungen geht hervor, dass die Wohnsituation bei beiden zeitweise nicht optimal und die Freizeit knapp bemessen war. Es kann zusammenfassend festgehalten werden, dass sich die Arbeits- und Lebensbedingungen von Helene Gasser und Marie Konheisner nicht grundlegend voneinander unterschieden haben. Fundamental unterscheiden sich jedoch die Bewertungen der Arbeits- und Lebensbedingungen. Konheisner beschwert sich über die übermässige Arbeitsbelastung, die unklaren Arbeitsbereiche sowie die knappe Freizeit, während Gasser angibt, mit allem zufrieden gewesen zu sein. Dies liegt sicherlich einerseits in der besseren Beziehung von Gasser zu ihrer Dienstgeberin. Jedoch ist auch in diesem Themenbereich die Verankerung in anderen diskursiven Traditionen ersichtlich.Eine weitere Erklärung für diese unterschiedliche Haltung ergibt sich, wenn die Gegenwartsperspektive der beiden Autorinnen in die Analyse einbezogen wird. Die theoretische Auseinandersetzung mit lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen als historische Quellen hat ergeben, dass die lebensgeschichtliche Prägung stark von der Gegenwart gesteuert wird. Marie Konheisners Aufzeichnungen entstehen in einer Krisenzeit. Der soziale Abstieg der Familie Kövess nach dem Ersten Weltkrieg, der ihre Position als herrschaftliche Köchin gefährdet, sowie die gegenwärtigen Probleme mit Eugenie Kövess verleihen ihren Aufzeichnungen eine negative Grundstimmung. Auch Helene Gasser befindet sich in einer krisenhaften Zeit, die durch Entwurzelung, Alter und Krankheit geprägt ist. Der Unterschied der beiden Autorinnen besteht jedoch darin, dass Konheisner noch mitten im Arbeitsleben steht und die schweren Arbeits- und Lebensbedingungen als Dienstmädchen eine tägliche Realität darstellen. Gasser hingegen konstruiert die Zeit als Dienstmädchen als verklärtes Gegenbild zu ihrer jetzigen Situation, in der sie sich nicht zurecht findet. Zentrales Merkmal von lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen ist, dass die dargestellten Erfahrungen nicht zufällig gewählt werden, sondern dass sie dazu dienen, ein Selbstbild zu konstruieren. Beide Autorinnen stellen sich als pflichtbewusste, fleissige, vertrauenswürdige, kurz: ‚gute’ Arbeitskräfte dar. Gasser fügt sich zudem in das von bürgerlicher Seite propagierte Idealbild eines Dienstmädchens, das sich loyal, treu und anhänglich den ‚Herrschaften’ unterordnet. Im Gegensatz zu Helene Gasser, deren Selbstbild von ihrem Umfeld bestätigt wird – so wird sie beispielsweise vom Wiener Hausfrauenverein als mustergültiges Dienstmädchen mit der Dienstmädchenprämie geehrt –, fehlt Konheisner die soziale Bestätigung. Um ihr Selbstbild zu verteidigen, baut sie ihr Selbstbewusstsein in Abgrenzung zu Eugenie Kövess auf und stellt diese als ungerechte und unfähige Hausfrau dar, die die Leistungen ihres Personals nicht zu würdigen wisse. Dieses Bild wird wiederum durch den zeitgenössischen Diskurs zur ‚Dienstbotenfrage’ seitens der Vertreter/innen der Dienstmädchen gestützt.Die Analyse der formalen und strukturellen Gestaltung der beiden lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen hat ergeben, dass sich diese auch in diesem Punkt massgeblich unterscheiden. Helene Gasser wählt vorwiegend die Erzählform der ‚Erzählung’ und der ‚Geschichte’, was auf eine emotionale Eingebundenheit hinweist. Sie durchlebt bei der Niederschrift ihrer Memoiren noch einmal ‚die gute alte Zeit’. Zudem will sie beim Publikum eine Wirkung erzielen und als ‚gute’ Erzählerin honoriert werden, was sie durch ‚amüsante’ und ‚spannende’ Geschichten sowie einer ästhetischen Sprachgestaltung erreicht. Marie Konheisner wählt im Gegensatz dazu vorwiegend die Erzählform des ‚Berichts’ und der ‚Beschreibung’. Sie erweckt den Eindruck mit einer Distanz zu den Ereignissen lediglich festhalten zu wollen, ‚wie es gewesen ist’. Interpretationen fliessen vorwiegend in der Form von Evaluationen und Kommentaren in ihre Lebensgeschichte ein. Jede Erfahrung wird kurz evaluiert und in den Erfahrungszusammenhang gestellt. Nur in der Schilderung aktueller Probleme, wie der Auseinandersetzung mit Eugenie Kövess, wählt sie manchmal die Erzählform der ‚Erzählung’. Es wird deutlich, dass lebensgeschichtliche Aufzeichnungen eine komplexe Struktur aufweisen. Verschiedene Zeitebenen sowie individuelle und kollektive Erfahrungen und Erinnerungen werden von den Autorinnen zu einem dichten Flechtwerk zusammengefügt, in dem das biographische Subjekt sichtbar wird.
Advisors:Haumann, Heiko
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Geschichte > Ehemalige Einheiten Geschichte > Osteuropäische und neuere Geschichte (Haumann)
UniBasel Contributors:Haumann, Heiko
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Master Thesis
Thesis no:UNSPECIFIED
Thesis status:Complete
Last Modified:05 Apr 2018 17:36
Deposited On:06 Feb 2018 11:22

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