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Bestrafung oder Therapie? – Das Schuldprinzip des Strafrechts aus der Sicht der Hirnforschung

Merkel, Grischa and Roth, Gerhard. (2010) Bestrafung oder Therapie? – Das Schuldprinzip des Strafrechts aus der Sicht der Hirnforschung. Bonner Rechtsjournal (1). pp. 47-56.

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Abstract

Legitimierende Bedingung des Strafrechts ist das Vorhandensein von Schuld, der Nachweis von Schuld deshalb Voraussetzung für Bestrafung. So stellt das Bundesverfassungsgericht fest: „Mit der Strafe [...] wird dem Täter ein Rechtsverstoß vorgehalten und zum Vorwurf gemacht. Ein solcher strafrechtlicher Vorwurf aber setzt Vorwerfbarkeit, also strafrechtliche Schuld voraus. Andernfalls wäre die Strafe eine mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare Vergeltung für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat“ (BVerfGE 20, 323, 331). Freilich regelt das deutsche Strafgesetz nicht positiv, was unter Schuld zu verstehen ist, sondern äußert sich lediglich zu den sog. Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründen. Am aussagekräftigsten und im hier diskutierten Kontext am meisten problematisch ist § 20 StGB. Danach ist die Schuldfähigkeit ausgeschlossen, wenn bei dem Täter ein Defekt vorliegt und diesem deswegen bei der Begehung der Tat entweder die Unrechtseinsicht oder die Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln, fehlte. Als solche nennt § 20 StGB: „krankhafte seelische Störung, tiefgreifende Bewusstseinsstörung, Schwachsinn und andere schwere seelische Abartigkeit“. Hinter diesen Defekten verbergen sich konkrete empirische Sachverhalte wie Hirnverletzungen, Epilepsie, Schizophrenie, hypnotische Zustände, Alkohol- oder Drogenrausch, Debilität oder Suchtabhängigkeit. Weil nach § 20 durch diese Faktoren die Fähigkeit, rechtmäßig zu handeln, bei Begehung der Tat ausgeschlossen sein kann, ergibt sich im Umkehrschluss, dass sich diejenigen Täter, die keine entsprechende Störung aufweisen, auch rechtmäßig hätten verhalten können. Dies heißt: § 20 lässt sich so interpretieren, dass er für die Schuldfähigkeit die Möglichkeit zum Andershandelnkönnen in der konkreten Tatsituation und damit Willensfreiheit voraussetzt. Dieser indirekte Schluss zur Auslegung der Norm mag anfechtbar erscheinen. Allerdings hat auch der Bundesgerichtshof in einem vieldiskutierten Urteil aus dem Jahre 1952 festgestellt: „Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich für das Recht hätte entscheiden können.“ Der Große Strafsenat erläutert außerdem: „Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, [...] solange die Anlage zur freien sittlichen Selbstbestimmung nicht durch die in § 51 StGB genannten Vorgänge vorübergehend gelähmt oder auf Dauer zerstört ist“ (BGHSt 2, 194, 200 – der damalige § 51 entspricht dem heutigen § 20). Dieses Urteil bekräftigt die traditionelle rechtsphilosophische Auffassung, dass die Schuldfähigkeit eines Täters in dem Vermögen begründet ist, willensfrei zu handeln. Willensfreiheit besteht darin, dass der Täter sich willentlich dafür hätte entscheiden können, anders zu handeln, als er es im konkreten Fall getan hat. Er hat sich daher „frei“ für die Straftat und gegen das Recht entschieden und ist dadurch schuldig geworden. Kann hingegen nachgewiesen werden, dass er nicht anders handeln konnte, so ist er nicht schuldig und darf deshalb nicht bestraft werden. Seit Beginn der modernen Strafrechtstheorie gibt es eine Auseinandersetzung über den Begriff der Willensfreiheit und den Zusammenhang von Willensfreiheit und Schuld (vgl. dazu Roxin, 2006, §§ 3, 19, 20; Beiträge in Geyer, 2004; Detlefsen, 2006). In der gegenwärtigen Diskussion geht es um die Frage, wie sich das traditionelle strafrechtstheoretische Konzept der Willensfreiheit zu den empirisch-experimentellen Erkenntnissen der Willens- und Handlungspsychologie und der Hirnforschung verhält, und um die konkrete Nachweisbarkeit des „Andershandelnkönnens“ im Strafprozess. Mit diesen Fragen werden wir uns im Folgenden beschäftigen.
Faculties and Departments:02 Faculty of Law > Departement Rechtswissenschaften > Ehemalige Einheiten Rechtswissenschaften > Assistenzprofessur Ethik und Recht (Merkel)
UniBasel Contributors:Merkel, Grischa
Item Type:Article
Article Subtype:Research Article
Publisher:Bonner Rechtsjournal
ISSN:1866-0606
Note:Publication type according to Uni Basel Research Database: Journal article
Last Modified:22 Nov 2021 13:17
Deposited On:22 Nov 2021 13:17

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