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Der Raub der Proserpina : Kultur- und Geschlechtergeschichte einer mythischen Figuration

Klebs, Julia. Der Raub der Proserpina : Kultur- und Geschlechtergeschichte einer mythischen Figuration. 2017, Doctoral Thesis, University of Basel, Faculty of Humanities and Social Sciences.

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Official URL: http://edoc.unibas.ch/diss/DissB_12533

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Abstract

Die Dissertationsschrift „Der Raub der Proserpina. Gewalt- und Geschlechtergeschichte einer mythischen Figuration“ untersucht ein lateinisch- und deutschsprachiges Textkorpus zum Raub der Proserpina von der Antike bis in die Moderne in Bezug auf literarästhetische Strategien des Umschreibens und die durch je unterschiedliche kulturelle Kontexte bedingten Besonderheiten der Mythentransformationen. Die literarischen Interpretationen werden damit um kulturwissenschaftliche Fragestellungen erweitert: Der Mythos wird als Vehikel begriffen, durch das Vorstellungen von Weiblichkeit, Nuptialität, Gewalt und Liminalität transportiert werden. Methodisch wird mit Studien gearbeitet, die an Hans Blumenbergs These von der Unabgeschlossenheit und Prozessualität von Mythen anschliessen. Das Begriffsinstrumentarium orientiert sich an einer vom Berliner Sonderforschungsbereich Transformationen der Antike (SFB 644) entwickelten kulturwissenschaftlichen Typologie, die sowohl dem intertextuellen Charakter als auch den kulturell je differenten Rahmenbedingungen der Rezeptionsstationen Rechnung trägt. In den Blick kommen sowohl die Zeiten überdauernde Narrative als auch das je historisch, kulturell, gattungspoetisch und medial Besondere.
Der Hauptteil der Studie umfasst die drei Teile "raptus Proserpinae", "relatio matris" und "apud inferos", die jeweils aus einem einleitenden Kapitel zum kulturellen Hintergrund bestehen sowie aus Literaturinterpretationen, die den jeweiligen Diskursfeldern zugeordnet werden. Aufgrund der grossen zeitlichen Distanz und der damit einhergehenden Fremdheit wird in Bezug auf die Kontexte insbesondere die Antike in den Blick genommen.
Der Block "raptus Proserpinae" wird von einem Kapitel eingeleitet, das den antiken Diskurs um den raptus nachzeichnet. Das raptus-Motiv, das in einem Spannungsfeld von Heirat, Liebe und sexueller Gewalt situiert ist, wird darin in seinen zwei dominanten Ausprägungen vorgestellt: Als legitimes antikes Akkulturationsmodell, das insbesondere Töchtern die vergemeinschaftende Funktion eines Bindeglieds zwischen Natal- und Nuptialfamilie zuweist. Zum anderen werden Literarisierungen des raptus als Ausdruck von den römischen Ehediskursen inhärenten Gewalterscheinungen begriffen. Dies wird anhand von Beispielen aus der lateinischen Literatur (Der Raub der Sabinerinnen, Lucretia und Philomela) und einem Exkurs in den Rechtsdiskurs ausgeführt. Die nachfolgenden Unterkapitel beinhalten die folgenden Literaturinterpretationen: Die Proserpinaversion aus Ovids "Metamorphosen" fokussiert auf die zu bewahrende Jungfräulichkeit, was im Rahmen einer komplexen Schachtelerzählung insbesondere in den beiden Nebenfiguren Cyane und Arethusa sowie in der Rahmenhandlung der misshandelten Musen zum Ausdruck kommt. Durch diese Figuren-Vielfalt wird die mit dem Raub zusammenhängende Gewalt auf geradezu anachronistisch anmutende Art und Weise hervorgehoben. Claudians Mythentransformation "De raptu Proserpinae" fokussiert auf den von Proserpina repräsentierten kosmisch-zyklischen Gesamtzusammenhang und stellt den Raub als einen von höheren Mächten legitimierten Hochzeitsakt dar. In Monteverdis "Orfeo" stellen sodann Pluto und Proserpina das an Orpheus' und Eurydikes Stelle stehende Liebespaar dar, wobei der Musik die zwischen Leben und Tod vermittelnde Rolle zufällt. Berninis Pluto-Proserpina-Gruppe (1621 – 1622) erscheint schliesslich als Apotheose der Vergewaltigung, wobei der mediale Wechsel zur Skulptur eine bemerkenswerte Verschiebung des visuellen Regimes mit sich bringt: Unter der Hand entwindet sich Proserpina als figura serpentinata zum einen ihrem Entführer, ist mit diesem zum anderen aber chiastisch verbunden, wobei auch der männliche Körper zum Objekt des rezipierenden Blicks wird. Abgeschlossen wird der raptus-Teil mit einer Interpretation von Alfred Döblins multiperspektivisch erzähltem Roman "Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende", in dem sich die Protagonistin Alice mit der Proserpinafigur identifiziert und damit eine Interpretationsfolie für die als gewaltsam erlebte Sexualität und Ehe findet.
Der Teil "relatio matris" beginnt mit einem Kapitel über die symbolische und soziale Funktion von Mutterschaft im antiken Rom. Mütter werden darin als Denkfiguren des Ursprungs analysiert und Mutterschaft – gerade in der symbolischen Überformung – an der Schnittstelle von privatem und öffentlichem Raum verortet. In letzterem stellten die mit Müttern verbundenen Motive der Fruchtbarkeit und Natürlichkeit Metaphern dar, die auf einen prosperierenden Staat übertragen wurden. Dies ermöglichte Frauen und Müttern von Stand, auch ausserhalb der Familie gesellschaftliche Wirkung zu erlangen, ändert aber nichts an der wesentlich an Männlichkeit orientierten antiken Beziehungslogik. Der Proserpinamythos stellt in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar: Er ist eines der wenigen literarischen antiken Zeugnisse, das die rein weibliche Beziehung zwischen Mutter und Tochter zum Gegenstand hat. Dies zeigt sich ausgeprägt im "Hymnos an Demeter", in dessen Zentrum die weiblichen Figuren stehen und wo die Entführung der Tochter zu einer explizit von Demeter bewirkten Störung des vegetativen Zyklos führt. In Ovids Mythentransformationen (den "Metamorphosen" und den "Fasti") ist Ceres sodann nicht mehr Urheberin der Dürre, sie beharrt jedoch ausdrücklich auf ihrem informellen ius maternum, das römischen Müttern ein zentrales Mitspracherecht bei der Verheiratung ihrer Töchter einräumte. Claudian hingegen macht Ceres zum Gegenstand eines Rabenmutterdiskurses avant la lettre: Seine innovativ angelegte Ceres-Figur nimmt in der auf das Motiv der Fruchtbarkeit fokussierenden Mythentransformation auf einzigartige Weise die Rolle einer unfruchtbaren Fruchtbarkeitsgöttin ein, der damit das zentrale Kriterium des antiken Weiblichkeitsdiskurses und der Aufenthalt im Kreis der Himmlischen abgesprochen wird.
Erst in der Moderne wird die Mutter-Tochter-Beziehung wieder rezipiert. So veröffentlicht die Schriftstellerin Elisabeth Langgässer 1933 eine Erzählung mit dem Titel "Proserpina", in der Mütterlichkeit naturmagisch symbolisiert wird. Langgässers Tochter, die Schriftstellerin Cordelia Edvardson, schildert in ihrem Buch "Gebranntes Kind sucht das Feuer" ebenfalls eine unter dem Vorzeichen des antiken Mythos stehende Mutter-Tochter-Beziehung, die nun aber zu einer fiktionalisierten Aufarbeitung der traumatischen Kindheit gehört, welche die Autorin als Mädchen mit jüdischer Herkunft unter der Nazi-Herrschaft erlitt.
Mit Luce Irigaray wird schliesslich auf eine feministische Poststrukturalistin eingegangen, die Teile des "Hymnos an Demeter" zu einem zentralen Pfeiler ihrer Theoreme macht: der "Hymnos" wird zum Ausgangspunkt einer weiblichen Genealogie, in deren Zentrum die Mutter-Tochter-Beziehung steht. In der Studie wird die These vertreten, dass Irigaray den Mythos im Sinne ihres theoretischen Ansatzes funktionalisiert und ihn als Gegenentwurf zum zentralen psychoanalytischen Triangulierungsmythos von König Ödipus stark macht.
Den Teil "apud inferos" leitet schliesslich ein Kapitel über die Tradition der Hadesfahrt und die eleusinischen Mysterien ein. Die daran anschliessenden Literaturinterpretationen gehen auf Proserpina als Unterweltsgöttin ein: Johann Wolfgang von Goethe situiert seine Proserpina im Rahmen des gleichnamigen Monodramas ganz in der Unterwelt, wo sie deren chronotopische Entgrenztheit und die Unumkehrbarkeit der Ankunft im Totenreich mit tragischem Gestus beklagt. Diese die Vegetationsmythe und die Mutterbeziehung ausblendende Klage wird mit der Aufnahme des Monodramas in die satirische Komödie "Der Triumph der Empfindsamkeit" sodann kontrastierend gespiegelt: Die Unterwelt verwandelt sich in eine englische Parklandschaft, die durch „ewigen Hass“ (Proserpina 68, 19) gekennzeichnete Verbindung zwischen Pluto und Proserpina löst sich in zwei Hochzeiten auf und das Monodrama ist Teil einer Spiel-im-Spiel-Struktur, welche die Empfindsamkeit als subjektiv-überspannte Mode ironisch ausstellt. Zur Satire auf die zu seiner Zeit dominante Eheform wandelt sich das Raubgeschehen auch in Heinrich Heines Proserpina-Version, die – durch ihre intertextuellen Bezüge zu Friedrich Schillers "Klage der Ceres" – zwischen Ironie und elegischer Klage über die Verbannung in die Unterwelt situiert ist. Elfriede Jelinek situiert mit Diana Spencer / Persephone (im Essay "Die Prinzessin in der Unterwelt") und Eurydike (im Monodrama "Schatten. Eurydike sagt") sodann zwei Protagonistinnen in der Unterwelt, die eng miteinander verwandt sind und auf unterschiedliche Weise eine Mortifizierung weiblichen Lebens repräsentieren: Diana Spencer / Persephone steht für eine medial ausgeschlachtete Form von prinzessinnenhafter, idealisierter Weiblichkeit, die fremdbestimmten Zwängen ausgesetzt ist und selbst zum Mythos wird. Mit "Schatten. Eurydike sagt" verfasst Jelinek sodann eine „Mythenkorrektur“ (Vöhler/Seidensticker/Emmerich 2005), in welcher der antike Stoff aus Eurydikes Perspektive dramatisiert wird. Das Monodrama bringt einen poetologischen Diskurs auf die Bühne, in dem sich Eurydike mit der Verschränkung von Tod und Weiblichkeit beschäftigt und ihre schattenhafte Substanzlosigkeit schliesslich als Befreiung begreift, die zu einem „Schattenteppich“, einem Symbol des intertextuellen Schreibens, führt.
Das abschliessende Kapitel "Proserpinas semantisches Potential – ein Rück- und Ausblick" arbeitet schliesslich zusammenfassend heraus, welche kulturwissenschaftlich relevanten Bereiche die Mythe umfasst, nämlich einen genealogisch-geschlechtertheoretischen, einen vegetationsbezogenen und angesichts der medial bewegten Rezeptionsgeschichte auch einen medienästhetischen Bereich.
Advisors:Honold, Alexander and Harich-Schwarzbauer, Henriette
Faculties and Departments:04 Faculty of Humanities and Social Sciences > Departement Sprach- und Literaturwissenschaften > Fachbereich Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft > Deutsche Literaturwissenschaft (Honold)
UniBasel Contributors:Honold, Alexander and Harich-Schwarzbauer, Henriette
Item Type:Thesis
Thesis Subtype:Doctoral Thesis
Thesis no:12533
Thesis status:Complete
Number of Pages:1 Online-Ressource (iii, 355 Seiten)
Identification Number:
Last Modified:10 May 2019 04:57
Deposited On:18 Apr 2018 12:06

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